Vereister Sommer
offenbar unter starkem Alkoholeinfluss. Allerdings hatten wir einen Weltempfänger dabei und konnten am Heck jede Stunde den aktuellen Nachrichtenstand abhören; aber wir hörten ihn nicht nur für uns ab, noch jedes Mal gingen wir danach sogleich in die Messe und informierten mit Hilfe unserer Dolmetscherinnen alle, die es wissen wollten an Bord, über die tatsächliche Lage in der Hauptstadt und auf der Krim, wo Gorbatschow unter Hausarrest stand und zum Glück nicht erschossen worden war, wie noch am Morgen gemeldet. Das entspannte die Lage an Bord beträchtlich, dennoch blieben Unsicherheiten. Zumal draußen inzwischen norwegische Nato-Aufklärer über uns kreisten, und je näher wir Murmansk kamen, um so mehr überlegten wir, ob wir Deutschen an Bord uns nach der Landung nicht so schnell wie möglich von dort aus ins nahe Nordfinnland absetzen sollten, eigentlich hätten wir über Leningrad, das gerade dabei war, sich wieder in St. Petersburg zurückzuverwandeln, nach Hamburg zurückfliegen sollen. Auf dem Schiff gab es auch einige jüngere Leute, unternehmungslustige Managertypen, die die Reise vermittelt hatten; sie verfügten offenbar über eigene Informationskanäle und beruhigten uns bald ihrerseits mit den Worten, die Lage in Petersburg wie in Murmansk sei sicher, die reformorientierten Kräfte hätten die Kontrolle über beide Städte, das gelte besonders für Sobtschak und Putin in der Stadt an der Newa. So war es auch, und selbst dem geplanten Kapitänsdinner zum Abschluss der Reise stand nun nichts mehr im Wege. Während die Lage in Moskau brenzlig blieb, feierten wir mit einem feinen Buffet und Krimsekt den erfolgreichen Abschluss einer ganz und gar unwahrscheinlichen Reise. Am nächsten Tag ließ ich allerdings umbuchen und flog mit meinen Freunden von Petersburg nicht direkt, sondern über Moskau nach Deutschland. Ich konnte in so einer Situation nicht in Russland sein, nur um mich aus dem Staub zu machen, und es war beileibe nicht bloß der Journalist in mir, |180| der mir eine vorzeitige Absetzbewegung verbot. Die sechs Stunden Zwischenaufenthalt auf
Scheremetjewo
nutzte ich, um mit einem meiner Freunde, der andere blieb aus Vorsicht im Flughafen zurück, in die vom Militär belagerte Stadt zu kommen: Ich wusste, es war ein historischer Moment, und er war, wie fast alle Momente dieser Art, nicht ohne Gefahren. Aber ich wollte dabei sein, wollte mit eigenen Augen sehen, anfassen und hören, was geschah. Ich hatte Prag im August 1968 gesehen, war 1981 in Danzig Zeuge des Kongresses der Gewerkschaftsbewegung »Solidarność« geworden, hatte im Frühjahr 1989 die Trauerfeier für Imre Nagy und Gefährten in Budapest mitbegangen und anschließend in Ungarn gestrandete DDR-Flüchtlinge begleitet. Und jetzt war ich eben zum richtigen Zeitpunkt in Moskau. Mit Hilfe eines erstklassigen Taxifahrers und einhundert Mark gelang es uns auch, sehr schnell und sehr tief in die Stadt vorzudringen, obwohl der erste Ring von Soldaten und Schützenpanzerwagen bereits auf der Höhe des Belorussischen Bahnhofs sichtbar wurde und den Ernst der Lage unmissverständlich anzeigte. Dann parkte unser Fahrer den Wagen in einer Seitenstraße, ganz bewusst in der Nähe einer Polizeistation, wie er uns andeutete, und lotste uns zu Fuß weiter, immer weiter, bis wir schließlich tatsächlich im Zentrum Moskaus angekommen waren und mit vielen Bürgern der Stadt, die offenbar mit Kind und Kegel wie zu einem Volksfest unterwegs zu sein schienen, vor der endlosen Postenkette standen, die den Zugang zum Roten Platz abriegelte: eine Serie zutiefst verunsicherter junger Soldatengesichter, die sich fast hilflos vor der gespenstischen Leere des Platzes verlor. In den Seitenstraßen und in der Nähe der Kremlmauer aber standen Panzer, auch vor dem Duma-Gebäude hatten sie Position bezogen. Auf den stählernen Ungetümen saßen jedoch scheinbar völlig angstlos, ja lachend und scherzend, ganze Menschentrauben, es erinnerte mich an die Bilder aus dem besetzten Prag vom August 1968, nur dass dort die Gesichter der Panzerbesetzer von Empörung, Zorn |181| und Trauer gezeichnet waren. Irgendwann kletterte auch ich hinauf, mein Freund schoss ein paar Photos, und dann sagte ich: »Lass uns zurückfliegen, ich glaube, die Sache geht gut aus. Wenn sie sich schon selbst besetzen müssen, dann sind sie wirklich am Ende.« Zum Glück lag ich nicht falsch mit dieser sehr schnellen Prognose, denn es gab Tote in jener Nacht, die ich schon wieder in
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