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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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am Tag immer wieder zielstrebig durch das ungeheuere Labyrinth aus Fluren und Etagen laufen, einem bestimmten Zimmer entgegen, oder zurückkehren an den Ausgangspunkt ihrer fast zwischenweltlichen Existenz, auch des Nachts greifen sie schon mal zum Telefonhörer und machen diversen Gästen, scheinbar willkürlich ausgewählt, aber gewiss nicht ohne Beziehung zu Verbindungsleuten in der Rezeption, auf diese Weise ein eindeutiges Angebot. Nur Christine, unsere Tontechnikerin, erhielt noch nie einen solchen Anruf. Gestern sind wir sogar erst gegen fünf Uhr morgens aus dem »Manhattan-Express« gekommen; es spielte die populäre Mädchen-Rockband »Lyzeum«, für viele junge Leute hier so etwas wie die russischen Spice Girls. Sie hatten eine Menge expressiver Hits im Repertoire und machten gewaltig Stimmung damit, |175| und doch hätte es mich kaum so gepackt wie geschehen, gäbe es bei ihnen nicht auch eine unüberhörbar poetische, ja tief melancholische Dimension. Das waren keine Plastikwörter, sie strahlten Stärke aus, Seelenstärke, und vibrierten vor Authentizität, deren Sogkraft man sich nicht entziehen konnte, nicht wollte. Vielleicht war es für lange das letzte Mal, einem Gefühl nachgegeben zu haben, einer Verlockung, die versprach, nach Hause zu kommen. Endlich nach Hause.
    Gegen halb zwölf war ich wach, um dreizehn Uhr trafen wir uns in meinem Zimmer, wo wir die Lage berieten, ich blieb dabei auf dem Bett, aß Kuchen, trank Mineralwasser, im Hintergrund lief im TV ein russischer Zeichentrickfilm, ein Märchen mit vielen Blumen, Winterszenen und einem Sonnenkönig. Später flimmerte auf dem Schirm eine Art Kochstudio, in dem auch gezeigt wurde, wie man Weihnachtsbehang aus Krepp-Papier faltet oder Goldpapierhüte für Kinder bastelt. Angesichts der Tatsache, dass wir dabei nach einer Strategie suchten, Vater doch noch zu einem Treff zu bewegen, aber eben nicht zu zwingen durch wegelagerisches Auftauchen vor seiner Wohnungstür, was zwar am einfachsten gewesen wäre, wir uns aber kategorisch verboten hatten, wirkte das alles sehr komisch, ja, absurd. Anschließend nahm ich im vollkommen leeren Bistro in der Lobby noch einen ziemlich starken Kaffee und beobachtete – die absurde Bilderfolge wollte nicht enden – eine mächtig runde Putzfrau beim Säubern von Luftschächten neben den Fenstern mit einem gigantischen Staubsauger, der proportional aber durchaus zu ihrem monströsen Leib passte. Von der Bar wehte Popmusik zu mir herüber, alle Spielautomaten waren, bis auf einen einzigen, unbesetzt: sie leuchteten und klimperten trotzdem vor sich hin. Spät abends drücken sich sonst ganze Zuhälterbrigaden davor herum: zweiarmige Banditen unterwerfen sich stundenlang den einarmigen.
    Um fünfzehn Uhr haben wir uns dann entschlossen, auf Verdacht jene Wohnung anzusteuern, die man uns vorgestern, |176| in der Meldebehörde in der Izumrudnaja 52, genannt hatte. Die beiden Frauen dort, um die fünfzig und mit schwarzen Kurzhaarfrisuren, reagierten umwerfend: Als sie hörten, worum es ging, dass da ein verlorener Sohn aus Deutschland in Moskau seinen verschollenen russischen Vater sucht, hatten sie keinerlei Bedenken mehr, in ihrem kleinen Büro mit Grundrissen und Quartierplänen an den Wänden, der russischen Trikolore auf einem weißen Lautsprecher aus Kunststoff und zwei Panzerschränken, auf denen ein kleines rotes Plastik-TV-Gerät thronte, die alten Karteikästen mit den Meldeblättern aufzuziehen, um uns die entscheidende Information geben zu können, die nicht nur sicher bestätigte, was wir schon zu wissen glaubten, die auch eine neue Perspektive eröffnete, das Ziel, um dessentwillen wir in Moskau waren, auch tatsächlich zu erreichen, offen und schonend zugleich: Ja, ein Wladimir Jegorowitsch Fedotow wohnt hier, in der Babuschkinastraße Nr. 42, Quartier 202. Seit 1988. Acht Jahre zuvor ist er nach Moskau zurückgekommen, davor hat er im Krasnojarsker Gebiet gelebt. Bis 1988 wohnte er in der Profsojesnajastraße Nr. 97, Appartement 31.
    »In Deutschland undenkbar«, sagte ich, nachdem wir alles notiert hatten. »In Holland ist das nicht anders«, sagte John. Wir meinten es beide nicht als Lob Richtung Berlin und Den Haag. Konstantin hatte dann die grandiose Idee, die alte Moskauer Wohnung von Vater anzusteuern, vielleicht lebten dort ja noch Kinder von ihm, Bekannte, andere Verwandte, die uns weiterhelfen könnten? Aber das wussten die beiden Engel von der Meldebehörde auch nicht. Und so wünschten

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