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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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Deutschland verbrachte, und mit ihnen spielte die politische Farce der Putschisten eine historische Sekunde lang die Möglichkeit durch, das anachronistische Stück doch noch in einer weiteren großen Tragödie enden zu lassen.
    Mitten in diese Erinnerung an jene dramatischen Tage brach ein ganz anderes, ganz gegenwärtiges Drama: In einer hell erleuchteten Seitenstraße des Teatralny projesd wurde ich gewahr, wie kaukasisch aussehende Männer, offenbar Zuhälter, ein auffällig zartes Mädchen brutal zwischen sich hin und her schubsten und sie dabei mit kaum unterdrückten Flüchen belegten. Das Mädchen taumelte wie ein betrunkenes Kind unter den rohen Stößen der gewalttätigen Männer von einer Richtung in die andere; es muss eine Tortur gewesen sein. Aber kein einziger Klagelaut kam ihm über die Lippen. In mir schoss dennoch eine Hassfontäne empor, kalt wie Eiswasser und tödlich für jeden, den sie getroffen hätte. Wäre mir in diesem Moment absolute Macht gegeben geworden, ich hätte die Kerle in derselben Sekunde ausgelöscht. Alle. Da ich aber nicht stehenblieb, sondern weiterging, wurde ich abgelenkt von der unerträglichen Szene, denn vor meinen Augen lag plötzlich das Ziel meines unvermeidbaren nächtlichen Ausflugs: der hell erleuchtete riesige Platz mit dem gigantischen Gebäude an seiner nordöstlichen Flanke, der
Lubjanka
, und vor ihrer Hauptfront der mächtige Sockel des 1991 gestürzten monumentalen Denkmals ihres ersten unumschränkten Herrschers, einer asketischen Killerfigur in der ideologischen wie liquidatorischen Tradition Robespierres: Felix Edmundowitsch Dserschinski. Wie sein revolutionäres Vorbild aus Frankreich mordete er nicht persönlich, sondern ließ morden. |182| Gerne aber verhaftete er eigenhändig. Verhöre führte er meist zu nächtlicher Stunde durch, wenn die Gefangenen physisch am schwächsten waren. Es kam ihm entgegen, er war Nachtmensch. Ansonsten trank er Pfefferminztee, aß vor allem Brot und rauchte starken russischen Tabak. Nationalität: Pole, russifiziert. Soziale Herkunft: Kleinadel aus dem Grenzgebiet zwischen Litauen und Weißrussland. Auf Anregung Lenins Gründer der Außerordentlichen Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage, genannt
Tscheka
, im Dezember 1917
.
Unter dem Zaren hatte er elf Jahre in Gefängnissen und Verbannung verbracht. Wie Stalin sollte auch er ursprünglich Priester werden: Der gefallene Engel Gottes ist der auf dem Boden der Geschichte angekommene Teufel.
    Ich überlegte keine Sekunde, ob ich weitergehen sollte oder nicht: Ich ging und ging und kam ihr näher und näher. Im Gebäude selbst brannte nur noch hinter wenigen Fenstern Licht, zwei russische Fahnen bewegten sich lautlos im leichten Nachtwind am verschlossenen, offenbar nicht mehr benutzten Haupteingang. Dann ging ich nach rechts und begann mit der Umrundung des Komplexes, nicht schnell, nicht langsam, normalen Schrittes. Hin und wieder berührte ich die Mauern, einmal blieb ich stehen und blickte in ein großes Fenster im Souterrain, von unten nach oben stieg ein eigenartig bläuliches Licht auf. Die Kantine vielleicht, dachte ich, denn es schälten sich aus dem magischen Dämmer bald auch Umrisse von Getränkeautomaten heraus. Wenig später passierte ich eine kleine Tür, neben der ein Schild angebracht war, auf dem der russische Doppeladler prangte, darunter das Kürzel FSB. Auf der Rückseite verband ein mächtiges Tor aus schwarzem Wellblech die alte Lubjanka mit einem Neubau im Stil der dreißiger Jahre. Vielleicht sind sie hier durchgeschleust worden, dachte ich, in den gespenstischen Verhaftungswagen der Tscheka, GPU, OGPU, des NKWD, NKGB und MGB, »schwarze Raben« genannt – die zahllosen Todgeweihten, denen |183| in diesen Mauern vor allem eins bewiesen wurde: dass sie nichts waren außer einer, wenn es darauf ankam, gestaltlosen Masse aus Fleisch und Blut, und Gott und die Wahrheit ein doppelter Witz. Die hier Gott waren und keine Witze machten, selbst wenn sie welche machten, und sie verfügten fast alle über einen äußerst sardonischen Humor, hießen Dserschinski, Menshinski, Jagoda, Jeshow und Berija. Der eigentliche Gott aber, dem sie als Hilfsgötter ergeben dienten, residierte ein paar Straßen und Häuser weiter – dort, von wo ich gerade herkam, hinter den Mauern des Kreml am Roten Platz: Gott
Stalin.
Auch Mutter war sein Opfer, und jetzt berührte ich, ihr Sohn, der vor wenigen Tagen aus den Händen von Oberst Kopalin eine

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