Vereister Sommer
Rehabilitierungsurkunde der Russischen Föderation, wegen erlittenen Unrechts in den ersten drei Lebensmonaten, feierlich überreicht bekommen hatte, die mächtigen Mauern des einstigen und später ganz speziellen Versicherungspalastes, jenes gefallenen Engels namens Dschugaschwili, mit den blutgetränkten Parkettfußböden und von Schreien der Folteropfer kontaminierten Wänden, zwischen denen die Witwe Bucharins, Anna Larina Bucharina, nach der Hinrichtung ihres Mannes 1937 für Jahre darin eingeschlossen, einen »Ozean menschlichen Leids« sich hatte ausbreiten sehen –
und es ging keine zerstörerische Macht mehr von ihm aus über uns.
Das alles raste mir durch den Kopf, als ich wie angewurzelt vor einem mit schwarzem Basalt verkleideten, gewaltigen Eingang stehenblieb, zu dem eine ebenso gewaltige Tür aus schwarzem Metall gehörte, bestückt mit starken schmiedeeisernen Verzierungen. Doch das allein hätte mich nicht zum Halten gebracht: Die riesige Tür war nicht nur nicht verschlossen, sie stand, mitten in der Nacht, sogar einen Spalt breit offen, aus dem starkes Licht auf die Straße fiel. Er gab zugleich einen Blick frei ins Innere des fast mythischen Gebäudes, auf ein hell erleuchtetes, mächtiges Treppenhaus, von dessen Stufen ein dunkelroter Läufer herabfloss. Für den |184| Bruchteil einer Sekunde war ich versucht, die schwere Tür weit aufzuziehen und über die blutrote Treppe, ganz langsam, nach oben zu gehen.
Auf dem Rückweg, es war kalt geworden, sah ich auf der Höhe des Bolschoi-Theaters eine Polizeistreife, wie sie ein auffällig junges Mädchen in einem auffällig eleganten Mercedes auffällig lange kontrollierte. Kurz nachdem ich den Roten Platz wieder erreicht hatte, wurde ich plötzlich von einem Scheinwerferstrahl erfasst, der meinen Schatten auf dem Pflaster zuerst verdoppelte und ihn dann so oft vervielfachte, dass ich nun als regelrechte Schattenkolonne über das leergefegte Areal lief. Außer meinen Schritten hörte ich nur noch einmal ein kurzes Lachen über den weiten Platz hallen. Es kam vom Lenin-Mausoleum herüber, von jungen Leuten, die sich vor dem gigantischen Steinsarg Uljanows gegenseitig ablichteten, des wie ein großes Insekt präparierten und unter Glas ausgestellten Revolutionsführers Lenin, der sich wahrscheinlich, Tag und Nacht in rötliches Licht getaucht, danach sehnte, endlich, wie Stalin und all die anderen Mordgefährten auch, zu Asche zu werden und in einer Urne für immer vor den bohrenden Blicken der Nachwelt zu verschwinden. Um zwei Uhr war ich wieder im Hotel und trank im Lobby-Bistro einen Tee zum Aufwärmen. Ein TV-Gerät lief und zeigte Bilder vom Krieg der Nato gegen Serbien, und Deutschland ist wieder dabei, dachte ich, in Marsch gesetzt ausgerechnet von den mitregierenden Pazifisten. Aber wie sollten diese Attrappen-Pazifisten einen wie mich jemals enttäuschen können! Ich kenne sie doch, seit meinen Hamburger Universitätstagen, als Militante aus dem Ungeist Maos, Stalins, Enver Hodschas und Pol Pots. Dann sah ich den abgeschossenen amerikanischen Tarnkappenbomber, jubelnde serbische Soldaten, und hatte genug vom Krieg in dieser Nacht. Hellwach, las ich im Bett noch in den »Moskauer Heften« Mandelstams: »Schon lieb ich Moskau, das Gesetz von |185| neuem, / Kein Fernweh nach dem Wasser, das nun an mir nagt – / In Moskau gibt es Telephon, Faulbeerbäume, / Durch Hinrichtung berühmt ist jeder Tag. // Und wenn du leben willst, so schaust du lächelnd / Auf die buddhistisch träge blaue Milch, / Begleitest mit dem Blick die Türkentrommel, die im Galopp auf rotem Leichenwagen / An dir vorbei zurückkehrt vom Begräbnis – / Du siehst das Fuhrwerk mit der Fracht von Kissen / Und möchtest rufen: Gänse, heimwärts, marsch! // Mach keinen Unterschied und knips nur, liebe Kodak, / Solang das Auge Linse, Mundschenk, Vogel ist, / Und nicht ein Stückchen Glas. Mehr Hell-und-Dunkel, / Und noch mehr, mehr! / – Die Netzhaut: sie ist hungrig … « Aber dann dachte ich, das ist Geschichte, und dachte auch, dass ich mit den Bildern, die das Gedicht in mir aufrief, nicht einschlafen sollte, und griff deshalb erneut in den kleinen Stapel mitgebrachter Bücher und zog einen Band Samjatin-Erzählungen heraus. Ich blätterte in ihm, fand die Geschichte »Der Norden« und einen Anfang, über dem ich, ruhiger und ruhiger werdend, endlich einschlief: »Es geht so vor sich: die Sonne rollt langsamer und langsamer, bleibt schließlich hängen. Und alles steht
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