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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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unbeweglich, für immer zu grünlichem Glas erstarrt. Nicht weit vom Ufer breitete eine Möwe ihre Flügel auf einem schwarzen Stein aus, setzte sich nieder, um wieder aufzufliegen – und wird für immer auf dem schwarzen Stein sitzen. Über dem Schornstein der Tranfabrik verdichtete sich ein Fetzen Rauch, als sei er Stahl. Ein flachsköpfiger Bootsjunge beugte sich über Bord, um die Hände im Wasser zu spülen – verharrt und rührt sich nicht mehr. Eine Minute ist alles wie Glas – diese Minute ist die Nacht. Und sieh, fast unmerklich, hat sich die Sonne gerührt, gewinnt an Kraft, hat sich kaum noch bewegt – und die gläserne Welt ist zerschlagen: das Meer sprüht schillernd in tausend Farbsplittern; die Möwe reißt sich von dem Stein los, von irgendwoher sind es auf einmal Hunderte, rosige, durchsichtige; der orangefarbene Rauch steigt auf; der flachsköpfige Bootsjunge kriecht erschreckt aus den |186| Stiefeln des Onkels – und schnell an die Arbeit. Der Tag hat begonnen.«
    Als der heutige Tag begann und ich erwachte, lag das Buch noch immer aufgeschlagen neben mir. Ich sah zum Fenster: Es schneite wieder; aber als wir losfuhren, brach plötzlich der Himmel auf, die Wolken wichen einem fast durchsichtigen Blau, die Sonne begann sich zu rühren, an Kraft zu gewinnen. Vor sechs Tagen noch hatte ich vom Flugzeug aus die vereisten Flüsse Russlands unter mir wie ein erstarrtes Aderngeflecht wahrgenommen.
     
    4. April 1999, 15 Uhr
    Im Haus von Vater ist es warm und voller Menschen, und Vaters Frau, die ich jetzt zum ersten Mal sehe, fragt mich nach meinem Namen:
Ulrich
, sage ich.
Как
, fragt sie nach, schüchtern, in Ton und Haltung eines verlegenen jungen Mädchens, und hält mir ihren Kopf hin, als sollte ich ihn ihr ins Ohr flüstern:
Wie
? Dann höre ich sie, nach meiner Wiederholung, langsam und deutlich meinen Namen aussprechen:
Ulrik
, mit einem stark gedehnten, dunkel betonten
U,
einem rollenden
R
und einem
K
am Ende. In Schweden, dem Land, in dem wir nun seit einem Jahr wohnen, kann man das
ch
auch nur schwer aussprechen. Auch in Schweden sagt man
Ulrik
zu mir. Und dann flüchtet sie, nicht vor mir, aber vor der Kamera, in die Arme ihres jüngsten Sohnes Jurij, meines Halbbruders, der sie schützend an sich zieht, seinen Arm um sie legt, sie auf die Stirn küsst: Sie ist, in diesen Minuten, vielleicht die von allen am meisten verwirrte Menschenseele in diesem Haus.
    Bald sitzen oder stehen wir, die Fremden und die Vertrauten, im Wohnzimmer, das wie ein Wintergarten wirkt, so viele großflächige Fenster lassen Licht in den mit hellem Holz ausgekleideten Raum, die Tüllgardinen sind zur Seite gezogen.
Tschechow
, melden sich die Klischees in meinem Kopf wieder zurück,
Turgenjew
; an
Peredelkino
sind wir hierher ja |187| auch vorbeigekommen, dem Datschendorf der russischen Dichter und Denker mit all seinen Namen und Dramen:
Pasternak, Babel, Pilnjak …
Auf einer der Fensterbänke steht ein weißer Kochtopf:
Blinis
,
Pelmeni
, wuchern die Klischees weiter. Aber sind es denn welche? Die herrlichsten habe ich acht Breitengrade vor dem Nordpol gegessen, 1995, auf der Kronprinz-Rudolf-Insel, dem nördlichsten Eiland des Franz-Josef-Land-Archipels, in der Küche eines Paares, das dort, weltfern und paradiesnah, in einem eisigen Glückstraum lebte und, wenn es nicht rare Gäste wie uns bewirtete, täglich Wetterdaten sammelte und per Funk weitergab, an eine zentrale Station auf dem russischen Festland, dem anderen Planeten. Köstlichen Lachs gab es dazu, Wodka und gemeinsamen Gesang. Einer der russischen Wissenschaftler, die unsere Expedition vor Ort, es war die vierte seit 1991, durch die allgegenwärtigen, abgründigen Naturwunder führten, schlug die Gitarre und forderte uns schon bald mit deutschen Volksliedern heraus, wir hatten Mühe, ihm über alle Strophen hinweg folgen zu können.
    In einigem Abstand werde ich endlich einer kleinen, kompakten Radioanlage gewahr, weder russisch noch unrussisch, nur nichtssagend modern, auf einem Hocker ein TV-Gerät. Schon gestern, in Jurijs Wohnung, ist mir die üppige Ausstattung mit Elektronika ins Auge gestochen. Auf dem Tisch vor der längeren Fensterbank fällt mir ein großes Glas auf, ursprünglich vielleicht ein Behältnis für Gewürzgurken oder Bonbons, darin eine klare Flüssigkeit.
Birkenwasser
, sagt Vater, selbstgezapft, und reicht mir davon: der Begrüßungstrank. Ich habe noch nie Birkenwasser getrunken, denke ich, während ich trinke, langsam

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