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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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sie uns am Ende doppelt Glück. Wir aber hatten es plötzlich im Übermaß.
     
    4. April 1999, 0 Uhr 30
    In der Nacht zum heutigen Ostersonntag hab ich endlich die Lubjanka umrundet. Warum? Ich
musste
es. John Albert, Adri und Christine hatten Mutter, die alle drei sympathisch findet |177| und denen sie vertraut, bei den Dreharbeiten zu unserem Film noch in Hamburg zwar hoch und heilig versprochen, mich rund um die Uhr in Moskau zu überwachen, sonst wollte sie einer Reise dorthin nicht zustimmen, sie mussten es regelrecht schwören. Aber wie sollte das gehen? Und außerdem sind sie meine Freunde, nicht meine Geheimdienstschatten. Um halb eins verließ ich das Hotel, überquerte, unter einem abnehmenden Mond, der noch tiefer stand als der rubinrot glühende Stern auf dem Spasskiturm, und leichtem kalten Wind den Roten Platz Richtung Manege, ließ den angestrahlten Marschall Schukow hinter mir und ging hinüber auf den Ochotny Rjad, am Marx-Denkmal vorbei, am Bolschoi-Theater und immer weiter den aufsteigenden Teatralnyi projesd hinauf bis zum Areal vor der Lubjanka. Als ich über den Roten Platz lief, war er fast leer. Vor dem Lenin-Mausoleum sprach ein einsamer Wachsoldat mit einem einsamen Zivilisten, Scheinwerfer aus der Richtung des Kremls warfen Schattenrisse von Gestalten, die auf Inlineskatern unterwegs waren, an die Prachtfassade des GUM. Am Ochotny Rjad tauchte ich ein in die Brandung des immer noch starken Autoverkehrs. Dann passierte ich die Duma und erinnerte mich sogleich an meine wirklich dramatische Ur-Begegnung mit diesem Haus, im August 1991, während des Putschversuchs gegen Gorbatschow. Gut möglich, dass unter den wildfremden Menschen, zwischen denen ich hier damals stand, meine Verwandten von heute gewesen sind: Vater und Jurij und Slavik. Es war am Ende meiner ersten Reise in die russische Arktis, die vom 10. bis 20. August dauerte und uns mit einem Forschungsschiff der russischen Akademie für Meereswissenschaften, der »Professor Molchanow«, gechartert von einem unternehmungslustigen deutschen Reeder aus Wedel bei Hamburg, ins sechzig Jahre lang für Ausländer gesperrte sowjetische Hochpolargebiet führte, nach Franz-Josef-Land. Der Reeder, ein alter Marineoffizier, ging selbst mit an Bord, gab – in karierten Puschen und stets eine kalt gewordene Handelsgold-Fehlfarbenzigarre |178| im Mund – quasi den Kaperkapitän, und dass er immer wieder einmal das Steuer selbst in die Hand nahm, mit leuchtenden Augen und kindlichem Vergnügen, amüsierte die Russen königlich. Ein einziger deutscher Journalist und Schriftsteller war vor mir dort oben gewesen: Friedrich Sieburg, 1931, mit dem sowjetischen Eisbrecher »Malygin«. Sein Reisebericht »Die rote Arktis«, erschienen 1932 im Frankfurter Societäts-Verlag und von fast magisch wirkender und zugleich kristallklarer Intensität, hatte mich mit einer gewaltigen Sehnsucht infiziert, wie schon die Originalberichte der österreichischen Entdecker des Franz-Josef-Landes, Julius Payer und Karl Weyprecht, aus dem Jahre 1876 selbst, die Christoph Ransmayr in seinem höchst suggestiven Roman »Die Schrecken des Eises und der Finsternis« anverwandelte in eine Story der Gegenwart, mit einem Helden, der sich in einem Traum verliert, den ich nun realisierte. Es war für mich die Erfüllung eines wirklich utopischen Traums und, nach meiner Erstberührung dieses arktischen
Utopia
mit allen fünf Sinnen, die Grundlegung für eine anhaltende Leidenschaft, die auch mit drei weiteren Expeditionen nicht gestillt werden konnte. Auf der Rückfahrt durch die Barentssee am 19. August, einige Stunden vor Murmansk, der am Ende des damals mit verschrotteten wie aktiven Atom-U-Booten vollgestopften Kolafjords gelegenen, im Zweiten Weltkrieg schwer zerstörten russischen Polarmetropole, erreichte mich und zwei mitreisende Freunde auf unserem Schiff, das gerade aus dem ewigen Eis kam, die vollkommen surreal anmutende Nachricht vom Staatsstreich in Moskau. Noch eben waren wir mit diesem Schiff nicht nur in der Barentssee unterwegs gewesen, sondern zugleich auch in einem frei werdenden Russland, das nun über Nacht wieder die alte Sowjetunion geworden sein sollte? Die bis dahin ungezwungene, offene Atmosphäre an Bord veränderte sich schlagartig, einige der Seeleute trugen plötzlich Uniform, und über den Bordlautsprecher hörte man ständig das monotone Gebrabbel der Putschisten, das sie auf einer |179| Pressekonferenz in Moskau von sich gegeben hatten, einige von ihnen

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