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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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Sonnenlicht, mal im Schneetreiben, aber immer am Grund umgeben von Straßen und Schnellstraßenzubringern, auf denen der Autoverkehr erst spät abebbt, bevor er des Nachts für zwei, drei Stunden fast ganz aufhört. Doch die eher kleine Kirche mit einem barocken Glockenturm ist ja nur eine von vielen in der Nähe. Wo man auch hinschaut von meiner Etage im »Rossija« aus: Man ist umstellt von ihnen, und wenn man weiß, dass sie alle heute wieder lebendige Gotteshäuser sind, erfüllt von dem Geist, um dessentwillen sie einst errichtet und seit 1917 von Lenin und Stalin mit pathologischer Zerstörungswut, hemmungslosen Entweihungsorgien und brutalstem Massenmord an Priestern, Mönchen und Nonnen bekämpft wurden, weiß man, was in diesem Land gerade wirklich geschieht: eine unglaubliche
Ostergeschichte
, die nicht nur den gestürzten Kommunisten
hier
zutiefst suspekt ist, auch der vom Säkularisationsvirus befallene Westen blickt zunehmend misstrauisch auf gerade diesen Teil der neuen russischen Wirklichkeit, der mir jedoch am meisten Vertrauen in den Wandlungsprozess Russlands einflößt.
     
    Zufall, könnte man natürlich sagen, mythenfern gestimmt oder ganz einfach ungläubig.
Zufall
, dass unsere Umarmung |173| ausgerechnet heute, am Ostersonntag, geschieht. Aber der lange, immer wieder unterbrochene Weg bis an diesen Punkt unserer Geschichte, der ausgerechnet auch noch den Namen
Schalikowo
trägt, was, wie Konstantin glaubt, mit Schalk zu tun hat und Verrücktheit, dieser aberwitzige Marathonlauf durch das Geschichtsfeld der letzten fünfzig Jahre, von Mitteldeutschland, über Westdeutschland und Schweden nach Russland, von Vaters mehr als zehntausend Kilometer umfassender Ost-West-Ost-Passage im Jahre 1950 ganz zu schweigen, strahlt plötzlich nichts Geringeres für mich aus als eine Aura des Logischen, die
wunderbar
zu nennen mir eher angemessen klingt denn abwegig. Ach ja, das so kalt, so rational wirkende Wort
Logik
– ich weiß doch, wo es herkommt, ich habe mich mit der Sprache, der es entstammt, zwar ziemlich schwer getan an der Universität, damals, vor fast dreißig Jahren in Rostock. Doch die Unlust, sie zu lernen und stattdessen politisch aufmüpfige Reden zu schwingen und provokative Texte im Zwangsfach Marxismus-Leninismus abzuliefern, die schließlich zur Relegation von der Universität und später ins Gefängnis führten, ist seit langem dem Faszinosum gewichen, sie zu lesen, die Bedeutungsfelder ihrer Wörter wieder und wieder abzuschreiten, ihren Quellgebieten auf die Spur zu kommen, ihre Klangbilder, die sie hervorrufen, zu hören wie nichts anderes als Musik: Das Logische wird bei solcher Arbeit, in der sich Mühe in Muße verwandelt, zum
lógos –
in ihm aber steckt alles, was passiert. Und alles heißt hier:
wirklich
alles. Und ist es nicht so? Jetzt? In diesem einen Moment, in dem sich
alles
bündelt, verdichtet, kristallisiert, was sich zuvor ununterbrochen und scheinbar für immer voneinander weg entfaltete?
     
    Dabei war die Moskauer Woche, die mit dem heutigen Tag nicht nur einfach vergangen ist, sondern wie eine durchbrochene allerletzte Panzersperre hinter uns liegt, bis gestern ja eher deprimierend: trotz aller Freundlichkeiten bei Veteranenorganisationen, |174| deren Mitglieder uns, schwer mit Orden behängt, wehmütige Lieder vorsangen und üppig beköstigten, mich aber umarmten, auf die Wangen küssten und beschworen:
Du musst deinen Vater finden!
Bei aller Hilfsbereitschaft auch von Behörden, der Erfolge in Archiven, wie auch trotz des Vergnügens, das wir an den Abenden hatten, bei Essen in Restaurants auf dem Arbat oder im »Manhattan-Express«, »Moscow’s ONLY New York Dance and Supper Club« im riesigen Hotelkomplex des »Rossija«, in dem man, laut Werbung, die Nacht vergessen kann und auch soll. Wir tranken
Absolut Wodka Citron
und
Heineken Bier
; wir tanzten oder sahen den Tanzenden zu, sogar eine Modenschau verpassten wir nicht; wir spielten Billard oder gingen in den Nachtclub im Hotel, wo sehr schöne Frauen sehr spärlich bekleidet vor den Gästen auf einer kleinen Bühne täglich beweisen, dass sie Ballettsäle nicht nur von außen kennen und, nun ja, so sind die Zeiten, die Gäste dazu animieren, ihnen Dollar- oder Markscheine zuzustecken. Aber nie wurde es aufdringlich; immer blieb es elegant, lasziv erotisch, verführerisch schön. Natürlich, wer wollte, hätte hier auch noch weitermachen können. Das Hotel wimmelt überhaupt von jungen Frauen, die nicht nur

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