Vereister Sommer
ihm ein Photo von jener Frau, die er einmal geliebt hat: Geradezu umhüllt von einem langen Mantel, die Halspartie in einem schwungvollen Kragen verborgen, ein wenig verdeckt er sogar noch Kinn und Wange, steht sie vor einer hohen Hecke und berührt mit der linken Hand einen hervortretenden Zweig, auf dem sich etwas Weißes befindet, eine Blüte vielleicht, genauer ist es auf dem Bild nicht zu erkennen. In der Beuge ihres rechten Armes, den sie an den Körper gepresst hat, hängt eine dunkle Handtasche, sie ist klein und sieht fein aus, es könnte eine aus Leder gewesen sein. Ihr Blick unter der nach hinten gekämmten Haarpracht: zurückgenommen, fast schüchtern. Nur ein leises Lächeln umspielt ihre Lippen. Es scheint mit der Blüte zu tun zu haben, die zwischen ihren Fingerspitzen leuchtet. Jeder, der dieses Bild betrachtet, wird von ihrem sanft auffordernden Blick auf diese Blüte verwiesen – wie damals, 1955, seit einem Jahr war sie wieder frei, auch der Photograph, der die Szene so festhielt. »Das ist Mutter«, sage ich und füge hinzu: »Nachdem sie aus dem Gefängnis gekommen ist.« Zwei, drei Sekunden hält Vater das Bild mit beiden Händen fest, versenkt seinen Blick darin –
und sagt nichts
. »Das ist das Gefängnis, wo ich geboren worden bin«, sage ich, und reiche ihm das nächste: Es zeigt die Burg, das Lager, wie Mutter sie immer noch nennt, Hoheneck. Den Leidensort. Das dritte Photo, das ich ihm zeige, leite ich mit den Worten ein: »Und dann später, das ist mein Gefängnis, wo ich war!«
Mein
Gefängnis, denke ich im selben Moment, wie bizarr, fast muss ich laut lachen: Ein Gefängnis, in dem man war, ist doch keine Trophäe, selbst für einen Unschuldigen nicht. Aber vielleicht ist meine Heiterkeit, die auf andere verrückt wirken muss, nur der Tatsache des Überstehens geschuldet, und ich habe ja nicht nur dieses Gefängnis überstanden, sondern auch noch den Staat, zu dem es gehörte wie die Hölle zum Teufel, das System, die Diktatur. Das sind schon drei Gründe, mit scheinbar unangemessener |191| Heiterkeit ein solches Bild zu präsentieren. »Wie alt warst du, als du ins Gefängnis kamst?«, fragt Vater, nachdem er sich dieses und weitere Bilder von
meinem
Gefängnis angeschaut hat, ruhig und konzentriert: Bilder von den mächtigen Zellenhäusern Brandenburg-Gördens, von seiner weiß gestrichenen Mauer, dem geharkten Todesstreifen und dem elektrisch geladenen Stacheldraht, vom Arrestblock, in dem ich einmal drei Wochen steckte, halb unter der Erde, 1975, im Februar, als UNO-Generalsekretär Waldheim der Diktatur seine Reverenz erwies. »Zweiundzwanzig«, antworte ich, »ich war zweiundzwanzig Jahre alt.« »Du warst zweiundzwanzig?«, fragt er nach, und dann sagt er mit der Distanz eines professionellen Psychologen: »Das ist ein kompliziertes Alter!« Woran erinnert er sich mit dieser Feststellung? An sich selbst, an meine Halbbrüder? Oder bestätigt sich damit für ihn lediglich ein weiteres Mal nur Wissen über Jungsein und Erwachsenwerden und dass man irgendwann weniger rebellisch wird? »Ich war ja immer in der Kirche«, versuche ich zu erklären, was mich getrieben hat, das Gefängnis zu riskieren. »Ich habe ja auch Theologie studiert«, füge ich an und sehe, wie Vater sich im selben Moment von Issakow, der übersetzt, abwendet, um mich direkt anzublicken. Er mustert mich geradezu. Während ich weiterrede, als ob nichts wäre, wüsste ich gerne, was er denkt. Jetzt. In diesem Moment. Aber ich habe mir geschworen, keine Fragen zu stellen, die ihm Bekenntnisse abverlangen, in welche Richtung auch immer. Er soll nur erfahren, was er längst weiß: dass es mich gibt, und endlich auch,
wie
es mich gibt. Das weiß er noch nicht, sowenig wie ich weiß, wer er gewesen oder geworden ist, warum und wodurch, und als wen er sich heute sieht, versteht, gibt. »Und«, sage ich und mache eine Pause, »in der Kirche, in Deutschland, da war nicht die Propaganda wirksam. Das war
meine
geistige Schule, und zusammen mit meiner Mutter hat der Kommunismus keine Chance gehabt, bei mir.« Jetzt lacht auch Vater übers ganze Gesicht und ruft aus:
»Das begreife ich!«
Dann erzähle ich |192| kurz, wie er aussah, mein Widerstand und der meiner Freunde. Erzähle von Gedichten, Geschichten, Analysen und einer illegalen Zeitung. »Wann war das?«, fragt Vater. »1973«, sage ich. Tief holt er jetzt Luft und macht nun doch ein sehr überraschendes Bekenntnis: »Das System in der DDR gefiel mir in der letzten
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