Verflixtes Blau!
Zeitrahmen dieser Geschichte wurde um jenen Julinachmittag 1890 herum konstruiert, an dem Vincent sich erschoss, und zwar aufgrund einer Tatsache, auf die ich zu Beginn meiner Recherchen stieß. Vincent van Gogh erschoss sich tatsächlich auf jenem Feld in Auvers, an dieser Kreuzung. Er schoss sich in die Brust, dann lief er eine Meile weit querfeldein zu Dr. Gachets Haus, um sich helfen zu lassen. Vincent und Theo wurden Seite an Seite in Sichtweite dieses Feldes in Auvers begraben. Ich habe an der Stelle gestanden und bin von dort zum Haus des Arztes gelaufen, das heutzutage ein Museum ist, und ich dachte: Was für ein Maler tut so was? Wer versucht, sich umzubringen, indem er sich in die Brust schießt, und läuft dann eine Meile, um ärztliche Hilfe zu suchen? Es klang einfach unglaubwürdig. Wer Vincents Briefe liest und sich seine letzten Bilder ansieht– Die Kirche von Auvers, Weizenfeld mit Krähen, Porträt der Adeline Ravoux (die Wirtstochter aus dem ersten Kapitel), Porträt des Dr. Gachet – , stellt fest, dass er es hier mit einem Künstler zu tun hat, der sich auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft und offensichtlich auf dem Weg der Besserung befindet. Sein Tod bleibt ein Mysterium, eine Tragödie, aber es finden sich Hinweise darauf, dass er wild entschlossen ein künstlerisches Niveau suchte, das nur er selbst nachvollziehen konnte, und darin scheint der Grund seiner Selbstkasteiung zu liegen. Woran orientiert man sich, wenn man etwas wagt, was noch nie jemand gewagt hat? Was für eine Art von Muse kann so etwas inspirieren? Genau.
Wenn man anfängt, über die Kunst und das Paris der 1890er Jahre zu schreiben, bieten sich einem schier unendliche Möglichkeiten. Innerhalb des zeitlichen Rahmens dieser Geschichte, zwischen den Jahren 1863 und 1891, hielten sich fast alle, die Rang und Namen hatten, in Paris auf, und nicht nur in Paris, sondern direkt auf dem Montmartre. Mark Twain, Claude Debussy, Erik Satie, Jules Verne, Oscar Wilde, Charles Baudelaire, Émile Zola, John Singer Sargent und so weiter und so weiter. Man bräuchte hundert Bücher, allein um die Geschichten der Maler zu erzählen, und so wurde die Entscheidung darüber, was und wen man weglassen sollte, eine größere Herausforderung als das Schreiben eines Romans über die Farbe Blau.
Wo, fragen Sie, bleibt Degas? Gustave Caillebotte? Mary Cassatt? Alfred Sisley? Warum so wenig über Cézanne? Ehrlich gesagt stellte sich mir in Cézannes Fall ein geographisches Problem– er mochte Paris nicht, und in der Zeit, in der die Geschichte spielt, wohnte er entweder in Aix-en-Provence oder in einem Dorf außerhalb von Paris und malte mit Pissarro. Cassatt war eine leidenschaftliche Sammlerin und begabte Malerin, doch wie Berthe Morisot, Eva Gonzalès und die anderen weiblichen Impressionisten beschränkte sie sich auf die Welt, die de n F rauen damals vorbehalten war, was sich in ihren Bildern von Kindern und häuslichem Leben widerspiegelt. Die Konventionen verboten es ihr, sich in der demimonde zu bewegen, in der Sacré Bleu spielt. Auch Caillebotte war ein talentierter Maler, doch als Spross einer Bankiersfamilie leistete er seinen größten Beitrag zur der Gruppe, indem er eine Sammlung anlegte und Renoir, Monet und Cézanne als Mäzen förderte. Auch er (wie Frédéric Bazille) starb jung, und ich hatte das Gefühl, er gehörte nie so recht zur Gemeinschaft des Montmartre. Was Degas angeht, nun, Degas war unangenehm. Als ich anfing, mich für Kunst zu interessieren, wusste ich absolut nichts über die Künstler und sah mir nur die Bilder in den Museen an– die Biografien der Maler interessierten mich nicht weiter. Ich mag Degas’ Bilder und Skulpturen und habe inzwischen am College Fotografie studiert, doch jetzt, als Geschichtenerzähler auf der Suche nach potentiellen Figuren, kam er mir wie ein miesepetriger, unsympathischer Bursche vor, und über so jemanden wollte ich nicht schreiben. Also bekam er keine Rolle in meinem Buch. Siehst du, wärst du nicht so ein Blödmann gewesen, hättest du eine Sprechrolle bekommen, Degas, aber so? Nein. Und so gern ich die ganze Art-Nouveau-Bewegung erkundet hätte, die in den 1890ern in Paris begann und an der Toulouse-Lautrec beteiligt war– nun, das ist eine andere Geschichte.
Was die Historie und die mystischen Eigenschaften des ultramarinfarbenen Pigments angeht, basieren einige Details auf der Wahrheit, doch die meisten habe ich für diese Geschichte erfunden. Das Pigment war
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