Verfolgt im Mondlicht
verfing sich in ihrem schwarzen Kleid und ließ den Rocksaum um ihre Oberschenkel tanzen. Sie lief schnell, und sie vermisste ihre Sportschuhe, die sie sonst trug, fast gar nicht. Doch als sie am Waldrand ankam, blieb sie abrupt stehen – so abrupt, dass sich die Absätze ihrer schwarzen Schuhe in die weiche Erde gruben.
Sie konnte nicht in den Wald gehen. Sie hatte keinen Schatten dabei – die obligatorische Begleitperson, die ihr helfen sollte, sich gegen den bösen Mario und seine Abtrünnigen-Gang zur Wehr zu setzen, falls die sich entschließen sollten, sie anzugreifen.
Wieder anzugreifen.
Bisher waren die Versuche des alten Mannes, ihrem Leben ein Ende zu setzen, zwar immer fehlgeschlagen, aber bei zwei der Versuche hatte jemand anderes sein Leben lassen müssen.
Schuldgefühle überrollten Kylie. Gefolgt von Furcht. Mario hatte gezeigt, wie weit zu gehen er bereit war. Und er hatte bewiesen, wie abgründig böse er war, als er vor ihren Augen seinem eigenen Enkelsohn das Leben nahm. Wie konnte man so skrupellos sein?
Sie schaute zum Waldrand und beobachtete die Blätter der Bäume, die im Wind tanzten. Die Szene war so völlig natürlich und normal, dass sie der Anblick hätte beruhigen sollen.
Aber sie fühlte sich nicht ruhig. Der Wald, oder besser etwas, das sich darin verbarg, forderte sie auf, ihn zu betreten. Etwas zog sie förmlich zum Waldrand. Kylie war verwirrt von dem seltsamen Gefühl und versuchte es zu ignorieren. Aber das Gefühl ging nicht weg, sondern wurde sogar noch stärker.
Sie atmete den grünen Duft des Waldes ein, und da wusste sie es.
Es war ihr plötzlich klar.
Sie wusste es mit absoluter Sicherheit.
Mario würde nicht aufgeben. Früher oder später würde sie Mario wieder gegenüberstehen. Und es würde nicht ruhig und friedlich zugehen. Nur einer von ihnen würde das nächste Zusammentreffen überleben.
Ich werde nicht allein sein. Diese Worte sollten ihr Frieden bringen. Aber es kam kein Frieden. Sonnenstrahlen tanzten zwischen den Bäumen auf dem Waldboden und riefen nach ihr. Lockten sie. Sie wusste nicht, warum oder was sie tun sollte, und mit der Unwissenheit kamen die Fragen. Angsteinflößende Fragen.
Unruhe überkam sie. Sie rammte die Fersen tiefer in den Boden. Der Absatz ihres rechten Schuhs knackte – ein unheilvolles, kleines Geräusch, das die Stille zerriss.
»Mist!« Kylie schaute auf ihre Füße. Das Wort schien wie aus der Luft gerissen und hinterließ nichts außer einem schaurigen Summen.
Und da hörte sie es.
Jemand atmete. Obwohl das Geräusch sehr leise war, wusste sie doch, dass derjenige, der da atmete, hinter ihr stand. Direkt hinter ihr. Und da sie keine Geisterkälte spüren konnte, wusste sie, dass es niemand aus der Geisterwelt sein konnte.
Da war das Geräusch wieder. Jemand atmete tief ein. Seltsam, dass sie inzwischen die Lebenden mehr fürchtete als die Toten.
Ihr rutschte das Herz in die Hose. Ähnlich den Furchen im Boden, die ihre hohen Absätze hinterlassen hatten, grub sich ihre wachsende Angst in ihr Selbstbewusstsein.
Sie war nicht bereit. Wenn das Mario war, dann war sie noch nicht bereit. Was auch immer sie tun musste, was auch immer das Schicksal für sie vorgesehen hatte, sie brauchte mehr Zeit.
2. Kapitel
»Ist alles okay bei dir?«
Die Stimme. Es war nicht Mario. Es war Derek.
Ihre Panik verpuffte. Aber die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Ich liebe dich, Kylie. Die Worte, die er weniger als eine Viertelstunde vorher ausgesprochen hatte, wühlten ihre Gefühle aufs Neue auf und ließen ihr Herz schneller schlagen. Derek liebte sie. Aber was fühlte sie?
Sie verlagerte ihr Gewicht, und der Absatz ihres rechten Schuhs brach ab, so dass sie kurz die Balance verlor. Genauso fühlte sie sich – als ob sie einen Absatz verloren hätte und jetzt durch die Gegend humpeln müsste.
»Was ist denn mit dir?« Seine Stimme klang besorgt.
Mir geht es gut. Die Worte lagen ihr auf der Zunge, aber sie schluckte sie herunter. Derek, der Halbfee war, konnte ihre Gefühle lesen. Ihn anzulügen – zumindest, wenn es um ihre Gefühlswelt ging – war also völlig zwecklos. Stattdessen drehte sie sich herum und schaute ihn an.
»Was machst du überhaupt hier, so ganz ohne Schatten?«, fragte Derek. »Du weißt doch, dass du nicht ohne Schatten herumlaufen sollst, solange dieser verrückte Abtrünnige jederzeit hier auftauchen könnte.«
Ihre Blicke begegneten sich, und Kylie sah Panik in seinen Augen. Sie
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