Verfolgt
der oberen Fenster des Hauptgebäudes etwas bewegt. Ich drehe mich um, aber es ist schon wieder weg. Mir wird unbehaglich zumute. Hat mir die Sonne einen Streich gespielt oder beobachtet mich jemand? Ich fasse mir ein Herz.
|49| »Hallo?«, rufe ich. »Ist da jemand?«
Stille.
Das Gelände ist bestimmt nicht unbewacht. Vielleicht war es ja der Hausmeister. Aber ich mag nicht noch mal rufen.
Ich gehe leise zum Hauptgebäude zurück, stelle mich auf die Zehenspitzen und spähe durch einen Spalt in den Brettern vor einem Fenster. Es ist zu dunkel drinnen, um etwas zu erkennen. Und zu hören ist nur das Gurren der Tauben. Wozu hat die Villa bloß früher gedient? Ich gehe darum herum und entdecke einen weiteren baufälligen Seitenflügel. Die Fensterrahmen sind schwarz, das Dach ist eingestürzt. Ich steige über einen angekokelten, vom Gras halb überwucherten Dachbalken. Sieht aus, als hätte es hier gebrannt, aber das Feuer hat nicht auf das restliche Gebäude übergegriffen. Ich spähe durch eine offene Tür. Zersplitterte Balken, kaputte Möbel, Rußspuren an den Wänden. Durch die Decke und den Dachstuhl kann man den Himmel sehen.
Ich gehe noch weiter um das Gebäude herum, bis ich an den ehemaligen Haupteingang komme, glaube ich wenigstens. Davor befindet sich ein unkrautüberwucherter Hof, eine Zufahrt führt zu einem Tor im Maschendrahtzaun. Wenn man die breite Vortreppe hochgeht, steht man vor einer wuchtigen Flügeltür mit eisernen Beschlägen und lauter Graffiti. Die Tür ist mit dicken Eisenketten und drei großen Vorhängeschlössern gesichert. Ich ahne, dass mir kein freundlicher Hausmeister öffnen und ein Taxi rufen |50| wird, aber da drin gibt es doch bestimmt ein Telefon. Ich muss ins Haus, irgendwie.
Das Fenster neben der Tür sieht vielversprechend aus. Die Bretterverkleidung ist abgerissen, die Scheibe ist nach innen eingeschlagen. Ich bin trotzdem unschlüssig. Soll ich lieber weiter die Zufahrtsstraße entlanggehen, bis ich auf die Hauptstraße komme? Da unten hat mein Handy wahrscheinlich wieder Empfang. Das Haus ist irgendwie gruselig, ich würde mich lieber verziehen. Aber die Hunde … wenn sie noch irgendwo lauern? Mir wird mulmig. Ich weiß nicht, ob ich noch die Kraft hätte, die Biester ein zweites Mal in die Flucht zu schlagen.
Ein dicker Regentropfen platscht mir auf die Schulter.
Das gibt den Ausschlag. Ich habe keine Lust, Locken zu kriegen, schon gar nicht, wenn mein Glätteisen kaputt ist.
Ich klettere auf das Fenstersims, lasse mich auf der anderen Seite vorsichtig ins Zimmer gleiten und passe dabei auf, dass ich mich nicht an den Glasresten im Fensterrahmen schneide. Im Dunkeln taste ich mit den Füßen nach dem Fußboden. Da ist kein Boden. Anscheinend liegt das Zimmer tiefer als der Erdboden draußen. Wieso das? Ich sehe so gut wie nichts. Meine Augen haben sich noch nicht umgestellt. Als ich endlich auf festem Boden stehe, fühlt es sich weich und feucht an, als würde ich über einen nassen Teppich gehen. Hier drinnen ist es kalt, man hört keinen Laut, als wäre die Stille schon lange nicht mehr gebrochen worden. Ich rümpfe die Nase, denn |51| es stinkt außerdem betäubend nach Verwesung. Als ich den Blick senke, erkenne ich vor meinen Füßen eine tote Taube. Der Kadaver wimmelt von Maden. Ich mache rasch einen Schritt beiseite. Nicht, dass noch Leichengift in meine schon entzündeten Bisswunden eindringt. Dann bekomme ich eine Blutvergiftung und sterbe, noch ehe ich meine Jugend genießen konnte.
Inzwischen kann ich im Dämmerlicht erkennen, dass ich in einer Art Diele stehe, so weitläufig, dass man darin Hallenfußball spielen könnte. Hinter mir ertönen hektische Flügelschläge und ich fahre herum. Unter der hohen, gewölbten Decke flattert eine Taube. Am anderen Ende der Diele ist ein schwacher Lichtschein zu sehen. Ich erkenne undeutlich ein paar kaputte Stühle und haufenweise Glasscherben. Vielleicht war es doch keine gute Idee, hier einzusteigen.
Hier drin ist es kalt wie in einer Gruft. Und die Hunde können genauso gut auch irgendwie reingekommen sein und beobachten mich jetzt mit ihren Nachtsichtaugen, wittern das Blut auf meiner Jeans. Oder hier hausen irgendwelche kranken Typen, die nur drauf warten, dass ein hübsches Mädchen des Weges kommt, das sie abmurksen können.
Irgendwo tropft es stetig, als würde Wasser in einen tiefen Brunnen rieseln. Ich bin ein ungebetener Eindringling. Ich fühle mich bedroht.
Jetzt reiß dich mal zusammen,
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