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Verfolgt

Verfolgt

Titel: Verfolgt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Kennen
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ausgesehen. Und warum hat er nicht gesagt: »Bleib ganz ruhig, ich hole Hilfe«? Einfach nur »Okay« – was soll das bitte heißen?
    Plötzlich verliere ich die Beherrschung. Ich schreie und schreie, bis mir die Stimme wegbleibt. Der Mann kommt sowieso nicht zurück. Ich bin hysterisch. Die Angst hat mich fest im Griff, ich raste aus. Mein ganzer Körper versteift sich krampfartig, meine Beine schmerzen unerträglich und ich gehe unter. Ich sinke in die Tiefe, eisige Kälte umfängt mich. Ich kann noch mit den Armen schlagen, |59| aber meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Als ich wieder an die Oberfläche strampeln will, klatscht etwas ins Wasser und trifft mich am Kopf. Im ersten Schreck denke ich, der Verrückte schmeißt mit Steinen nach mir. Aber vor meinem Gesicht treibt etwas im Wasser.
    Ein Seil. Ich greife danach und schlinge mir das Seil ums Handgelenk. Das Gesicht erscheint wieder und ich warte ab, bis der schmerzhafte Krampf in meinen Beinen nachlässt. Als es etwas besser wird, ziehe ich mich ein Stück am Seil hoch, aber ich kann mich nicht ganz aus dem Wasser hieven.
    »Ich schaff ’s nicht!«, schnaufe ich nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen. Von oben kommt keine Erwiderung. Ich versuche, mir das Seil um die Taille zu knoten. Dann gehe ich beim nächsten Krampfanfall wenigstens nicht wieder unter. Da wird mir das Seil aus den Händen gerissen.
    »Was soll das?«, schreie ich, als das Seil mit Schwung aus dem Wasser gezogen wird. Oben auf den Dielen ertönen Schritte, dann wird es still. Ich bin wieder allein.
    »Holen Sie Hilfe!«, rufe ich heiser. »Rufen Sie die Polizei!« Der Typ ist anscheinend ein Irrer oder ein Junkie oder so. Vielleicht muss man ihm ganz genau erklären, was er machen soll. »HOLEN SIE HILFE!« Er muss zurückkommen. Bestimmt kommt er zurück. Er ist ja schon einmal zurückgekommen. Ich schwimme wieder zu meinem Balken, schlinge die Arme darum, schmiege die Wange an das nasse Holz. So treibe ich wartend im Wasser.
    |60| Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, bis wieder eine Ladung Staub und Dreck ins Wasser rieselt und ich über meinem Kopf vorsichtige Schritte höre.
    »Bitte helfen Sie mir!«, rufe ich, nach Atem ringend. Abermals klatscht das Seil ins Wasser und ich packe zu. Diesmal lasse ich nicht los. Jemand hat Knoten und Schlingen in das Seil geknüpft und Holzstücke hineingebunden. Der Typ hat eine Strickleiter gebastelt. Ich brauche nur noch daran hochzuklettern, aber ich habe keine Kraft mehr. Mir ist so kalt, ich bin so müde   … Ich greife nach einem Holzstück und mühe mich ab, den Fuß unter Wasser in eine Schlinge zu schieben. Erst trete ich immer wieder daneben, aber dann klappt es. Das Wasser zieht an mir, als wollte es mich nicht loslassen, und es fühlt sich an, als würden mir die Arme ausgekugelt. Ächzend und triefend ziehe ich mich hoch, mein Atem steigt in weißen Wölkchen auf. Ich ertaste mit dem Fuß die nächste Schlinge und packe das Holzstück einen Knoten weiter oben. Ich schließe die Augen und hole tief Luft. Ich schaffe das!
    Ein Seil hochzuklettern ist höllisch anstrengend, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Meine Handflächen brennen, meine Beine zittern, aber ich klettere die Strickleiter Stück für Stück hoch. Ich drehe mich in der Luft wie eine tote Riesenspinne, aber ich klettere eisern weiter und schließlich erreiche ich das Loch in der Decke. Mir tut alles weh, aber jemand packt mich am Handgelenk, hievt und zerrt mich durch die Öffnung, bis ich auf den morschen |61| Brettern liege. Ich erkenne undeutlich ein Männergesicht, aber ich sehe alles verschwommen und flimmernd, wie das Bild in einem kaputten Fernseher. Dann wird mir schwummerig, alles dreht sich und ich höre noch den dumpfen Aufschlag, als mein Hinterkopf auf die Dielen knallt.

|62| NYASHA
    Ich schlage die Augen auf. Ich liege unter einem Baum auf dem Rücken. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen, der Himmel ist wieder klar. Im Laub flimmert schon rötliches Abendlicht. Als ich mich strecke, fährt mir ein stechender Schmerz in die Beine. Stöhnend wälze ich mich auf die Seite. Mir tut alles weh, Rücken, Beine, Arme, Schultern, Nacken, Augen, alles. Und ich habe solche Kopfschmerzen, dass mir fast der Schädel platzt. Aber ich lebe noch. Und ich habe es noch nie so zu schätzen gewusst, wie herrlich Wärme ist. Ich bin in eine dicke Decke gewickelt, die aus lauter bunten Stoffflicken zusammengenäht ist. Verrückt. Wie im Märchen komme ich mir

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