Verfuehr mich
Die Sonne war so stark, dass sie eine Hand über die Augen legen musste, als sie das Meer nach Neptuns Torheit absuchte. Es waren keine Boote zu entdecken. In den letzten Tagen war die schwüle Hitze zurückgekehrt und die Luft fühlte sich sehr schwer an.
Über dem grün überbewucherten Sumpfland entdeckte sie einige umherschwirrende Libellen. Eine jagte in einem Blitz irisierenden Lichts an ihr vorbei, und Bliss konnte gerade noch sehen, wie sie im Schilf verschwand.
Aus dem Inneren des Restaurants waren Geräusche zu hören: Schranktüren wurden geöffnet und wieder geschlossen, klemmende Fenster aufgestoßen und Lichtschalter an- und wieder ausgeknipst. Joe hatte einen Kumpel bei der Stromversorgung gebeten, die Leitung des Gebäudes wieder ans Netz zu bringen, damit es nicht so verlassen wirkte. Die Kommentare, die Bliss von Mike hörte, klangen alle, als wollte er Wissen vortäuschen. Dabei musste er doch eigentlich nur prüfen, ob das Gebäude nicht von sommerlichen Hausbesetzern in Besitz genommen war oder ob es kurz davor stand, in sich zusammenzufallen.
Schlackenstein war unverwüstlich. Das wusste selbst sie. Jaz würde sicher kein Geld verlieren, wenn er den Besitz kaufte. Es könnte aber sein, dass er auch keines verdienen würde, wenn er das Restaurant wiedereröffnete.
Plötzlich erklang irgendwo das Klingeln ihres Handys. Bliss fiel ein, dass sie es in ihrer Handtasche ganz in der Nähe der Anlegestelle hatte liegen lassen. Sie rannte zurück, durchwühlte den Inhalt der Tasche, bis sie das Handy gefunden hatte, und schaute auf das Display.
Vi! Mist! So viel zu ihrem freien Tag am Meer. Vi musste – entgegen ihrer ausdrücklichen Ansage – ins Büro gegangen sein. Bliss wappnete sich, das Gespräch anzunehmen, und stellte sich vor, wie ihre Chefin ungeduldig mit den Fingern auf den Schreibtisch trommelte.
Bliss nahm das Gespräch mit einem gut gelaunten Hallo entgegen, das nach einem Nicht schuldig klingen sollte. Schwer hinzukriegen, wenn die Zehen sich dabei in den warmen Sand gruben.
»Hallo?«, wiederholte sie, als am anderen Ende keine Antwort zu hören war.
»Bliss?« Vis nächste Worte wurden vom Knarren des schlechten Empfangs unterbrochen. »Bist du da? Hier ist Vi.«
»Hi. Ja, ich bin hier. Auf Pine Island.« Bliss entschloss sich, nicht zu lügen, und bereitete sich innerlich schon auf eine spitze Bemerkung vor. Aber Vi überraschte sie.
»Ich auch. Ich bin mit Rocco unterwegs. Auf Neptuns Torheit . Bliss?«
»Ich bin noch dran.«
»Wir sind ganz weit draußen in der Nähe der Bay-Inseln und …« Vis Stimme erstarb, war aber gleich darauf wieder zu vernehmen. »Rocco kriegt den Motor nicht an. Das Ding hat den Geist aufgegeben, und wir treiben langsam aufs Meer hinaus.«
Bliss sah durch das Fenster, ob sie Jaz noch irgendwo im Haus entdecken konnte. Er musste wohl mit dem Banktypen die hintere Treppe hinaufgestiegen sein, um das Dach zu überprüfen, denn sie hörte über sich ein leises Murmeln.
»Hast du schon die Polizei von Havertown verständigt? Die Marine? Die patrouillieren in der Bucht …«
»Ich weiß die Nummer nicht«, erwiderte Vi nervös. »Du warst die Erste, die in der Wahlwiederholung auftauchte, also habe ich dich angerufen.« Dann sagte sie etwas zu Rocco, das Bliss nicht verstand.
»Ähm, lass mich mal kurz nachdenken. Es muss doch etwas geben, was wir tun können. Woher wusstest du übrigens, dass ich hier bin?«
»Wusste ich gar nicht.« Die Stimme von Vi klang, als würde sie gleich in Panik ausbrechen.
»Okay, okay, beruhige dich.« Bliss machte sich wirklich keine großen Sorgen, aber das konnte sie Vi natürlich nicht sagen.
»Rocco, der Motor ist kaputt. Hör endlich auf, daran rumzufummeln.« Dann wandte Vi sich wieder an Bliss. »Ist Jaz bei dir? Könnt ihr euch nicht ein Boot leihen und rauskommen?«
Bliss hielt das Telefon ans Ohr gepresst und suchte den Horizont ab. Es ließ sich beim besten Willen nicht sagen, wo die Neptuns Torheit gerade war, aber Jaz würde die Bay-Inseln sicher problemlos finden. Aber mit welchem Boot … Ihr Blick fiel auf das Motorboot, das am Anleger festgemacht war. Es war neu und würde sicher gute Dienste leisten.
»Das könnte klappen, Vi …«
Die Verbindung wurde wieder schlechter. »Rocco sagt, von Norden zieht eine Gewitterfront heran, die gar nicht gut aussieht. Ihr müsst uns irgendwie helfen. Bliss? Bliss?«
Irgendwann würde ihre Chefin schon begreifen, dass das Wetter außerhalb jeder
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