Verführer der Nacht
»Halt ihn gut fest, Paul«, warnte Colby ihren Bruder rasch. Das Pferd wich nervös zur Seite aus, warf den Kopf zurück und machte die Beine steif.
»Kann ich nicht!«, schrie Paul, als das Pferd in einem plötzlichen Temperamentsausbruch stürmisch herumfuhr und den zaghaften Griff des Jungen abschüttelte. Paul brachte sich schleunigst in Sicherheit, die Augen ängstlich auf die schlanke Gestalt seiner Schwester gerichtet.
Der Braune tänzelte unruhig, wirbelte herum und warf sich mit einem lauten Krachen, das die Pfosten und den Erdboden beben ließ, an den Zaun. Paul zuckte zusammen, und seine oliv getönte Haut erblasste unter der Sonnenbräune. Colby wurde noch zwei Mal an den Zaun geschmettert, bevor sie auf den Boden fiel und sich unter den Zaunlatten hindurch aus der Umzäunung rollte.
»Alles in Ordnung, Colby?«, fragte Paul beunruhigt und kniete sich neben seine Schwester in den Staub.
Colby rollte sich stöhnend auf den Bücken und starrte in den Abendhimmel. Ein schwaches Lächeln verzog ihren weichen Mund. »Was für eine schwachsinnige Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen«, bemerkte sie geistesabwesend. »Wie oft hat mich dieser elende Gaul schon abgeworfen ?« Sie setzte sich auf und strich sich ein paar feuchte Haarsträhnen, die sich aus ihrem dicken, rotblonden Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht. Ihr Handrücken hinterließ einen schmalen Schmutzstreifen auf ihrer Stirn.
»Heute oder insgesamt?«, scherzte Paul, ließ aber hastig das Grinsen von seinem Gesicht verschwinden, als Colby die volle Kraft ihrer Augen auf ihn richtete. »Sechs Mal«, antwortete er feierlich.
Sie stand vorsichtig auf und wischte eine Staubschicht von ihren verwaschenen Jeans. Bekümmert musterte sie ihr zerrissenes Hemd. »Wem gehört dieses Vieh eigentlich? Wer es auch ist, es sollte lieber jemand sein, den ich mag.«
Paul, der gerade sorgfältig den Staub von Colbys Hut klopfte, wich ihrem Blick aus. Wenn es nicht um ein Pferd ging, das für Rodeos zugeritten wurde, überließ Colby Paul alle geschäftlichen Details. Pech gehabt. »De La Cruz«, murmelte er leise. Mit seinen sechzehn Jahren war er größer als seine Schwester, dazu schlank, gebräunt, mit den Muskeln eines Reiters und ungewöhnlich stark für sein Alter. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Reife, der seiner Jugend nicht entsprach. Er hielt seiner Schwester den verwitterten breitkrempigen Hut wie ein Friedensangebot hin.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten, und auch der Braune hörte auf, zu schnauben und mit den Hufen zu scharren. Colby starrte ihren Bruder entgeistert an. »Reden wir etwa von dem De La Cruz, der auf diese Ranch gekommen ist, um mich zu beleidigen? Der verlangt hat, dass wir unsere Siebensachen packen und die Ranch unseres Vaters verlassen, weil ich eine Frau bin und du noch zu jung bist? Der De La Cruz? Der De La Cruz, der mir befohlen hat, Ginny und dich der Familie Chevez zu überlassen, und mir noch dazu mit seinem unverschämten, abstoßenden Macho-Gehabe mörderische Kopfschmerzen beschert hat?« Colbys leise Stimme war samtweich und die zarte Perfektion ihrer Gesichtszüge völlig unbewegt. Nur ihre großen Augen verrieten ihre Stimmung. »Sag mir, dass wir nicht über den De La Cruz sprechen, Paul. Lüg mir was vor, damit ich keinen Mord begehe.« Ihre strahlenden Augen sprühten förmlich Funken.
»Na ja«, antwortete er ausweichend, »es war Juan Chevez, der die Pferde gebracht hat, sechzehn Stück. Wir mussten sie nehmen, Colby. Er zahlt Spitzenpreise, und wir brauchen das Geld. Du hast selbst gesagt, dass Clinton Daniels dir wegen der Hypothek im Nacken sitzt.«
»Nicht ihr Geld«, brauste Colby auf. »Niemals ihr Geld! Damit wollen sie doch nur ihr schlechtes Gewissen beschwichtigen. Wir finden schon andere Möglichkeiten, um die Hypothek zu bezahlen.« Sie schüttelte den Kopf, um sich von dem Zorn zu befreien, der völlig unerwartet in ihr aufstieg. Während sie ihren Hut heftig auf ihren Oberschenkel knallte, stieß sie halblaut ein paar äußerst undamenhafte Flüche aus. »Juan Chevez hatte kein Recht, dir die Pferde hinter meinem Rücken anzubieten.« Als sie einen Blick auf das bedrückte Gesicht ihres Bruders warf, verrauchte ihr Zorn so schnell, als wäre er nie da gewesen.
Sie streckte eine Hand aus und fuhr ihm liebevoll durch sein tiefschwarzes Haar. »Es ist nicht deine Schuld. Ich hätte etwas in der Art erwarten und dich vorwarnen müssen.
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