Verführt: Roman (German Edition)
splitterndem Eichenholz zerriss die gespenstische Stille.
Bevor das Geisterschiff sich ein zweites Mal zeigen konnte, hatten die beiden Segler sich wieder entwirrt und sich ohne einen Blick zurück zum Horizont nach Frankreich aufgemacht, ungeachtet der weiteren Schäden, die ihre Flucht verursachte.
Die englischen Seeleute an Bord der rapide sinkenden Courageous , die ihren Frieden mit welchem Gott auch immer schon gemacht hatten, sahen das Geisterschiff mit überaus gemischten Gefühlen erneut erscheinen. Der Bug des Schiffs tauchte die Männer in tiefe Schatten, dann folgte ein grimmiges Knarren, als gingen die Pforten des Himmels auf, um reuige Sünder einzulassen.
Die Leute der Courageous standen schon knietief und frierend im einsickernden kalten Wasser und fragten sich, ob sie wohl noch lange genug leben würden, um dereinst ihren Enkelkindern von dem wundersamen Eingreifen der Retribution zu erzählen. War sie die Rettung oder der Untergang ihrer des Kämpfens müden Seelen?
Wie zur Antwort entfaltete sich von himmelwärts eine Strickleiter und fiel den aufwärts blickenden Gesichtern entgegen. Die Männer griffen dankbar nach der Leiter und fragten nicht länger, ob sie einem gütigen oder einem rachsüchtigen Gott entgegenkletterten.
»Ich kann nicht glauben, was du da tust. Hast du den Verstand verloren?«, murmelte Kevin.
»Als ob ich eine andere Wahl hätte«, zischte Gerard zurück, während er vom Vorderdeck aus zusah, wie die bleichen, durchnässten Männer auf das Deck strömten, auf dem sich schon niedergeschlagen seine eigene Mannschaft versammelt hatte. »Nachdem wir so viel riskiert haben, sie vor den Franzosen zu retten, wäre es doch schlechtes Benehmen, sie ertrinken zu lassen, oder vielleicht nicht?«
Kevin zuckte missmutig die Achseln, doch Gerard wusste, dass sein Bruder nicht halb so blutrünstig war, wie er vorgab. Er war einfach nur außer sich vor Sorge. Um Gerard.
Doch als Lucy aus dem Frachtraum auftauchte, war auch Gerard dem Wahnsinn nahe. Er hatte ihr ausdrücklich untersagt, zum unteren Geschützdeck hinunterzugehen, aus Angst, die Kanonen könnten zum Einsatz kommen. Aber aus dem Rußfleck auf ihrer Nase und der schuldbewussten Miene zu schließen, schien sie es sehr wohl geschafft zu haben, sich irgendwelchen kriegerischen Aktivitäten zu widmen.
Er lief auf sie zu, um sie vor den neugierigen Blicken der neuen Passagiere zu schützen, da ließ ein Jubelschrei ihn auf halbem Weg stehen bleiben.
»Lucy! Lucy, mein Mädchen, bist du das?«
Vorbildlicher Kommandant, der er nun einmal war, hatte Lord Howell sein sinkendes Schiff als Letzter verlassen. Was zur Folge hatte, dass er bis zu den grauen Haarspitzen durchnässt war. Halb stützten, halb zerrten ihn seine Männer an den Tressen der Uniform über die Steuerbordreling. Howell nieste einmal kräftig, dann schob er die helfenden Hände fort und stolperte übers Deck auf Lucy zu.
Lucy war versteinert vor Schock. Kaum dass sie sich vom Lärm des Geschützdecks erholt hatte, steckte sie schon in Lord Howells vertrauter, aber pitschnasser Umarmung. Seine eigene Tochter hätte er nicht aufrichtiger von Herzen kommend begrüßen können. Seine Herzlichkeit riss Lucys seelische Wunden wieder auf und ließ damit die reinigenden Tränen fließen, die sie zum Heilen brauchten. Sie sank in seine Arme und gestattete sich jenen Luxus, der ihr so lange verwehrt geblieben war. Sie weinte sich an einer Schulter aus, die breit genug für den Ansturm ihrer Gefühle war.
»Ist ja gut, Mädchen, ist ja gut«, murmelte er, als das heftige Beben ihrer Schultern allmählich abflaute. »Tritt einen Schritt zurück und lass dich ansehen, bitte.«
Sie gehorchte und wischte sich mit dem Handrücken die Nase. Lord Howell begutachtete neugierig die Männerkleider, dann lachte er sie voller echter Zuneigung an. »Nicht schlecht, dein neuestes Abenteuer! Dein armer Vater ist fast wahnsinnig vor Sorge. Wäre fast vor dem Kriegsgericht gelandet, weil er sich heimlich mit einem Kriegsschiff der Royal Navy davongemacht hat, ohne die Erlaubnis des Königs abzuwarten. Natürlich hat sich Seine Majestät, der ja selbst Kinder hat, mitfühlend gezeigt, als Lucien zurückkam, halb verrückt vor Trauer, weil er dich nicht hatte befreien können.«
Verrückt, fürwahr!, dachte Lucy bitter. Aber vermutlich mit Schaum vor dem Mund vor lauter Zorn.
Es blieb ihr erspart, eine passende Antwort formulieren zu müssen, weil Lord Howells ganz Aufmerksamkeit
Weitere Kostenlose Bücher