Verführt: Roman (German Edition)
erbeten. Er wollte im Kanal patrouillieren, um Zeit für seine Memoiren zu haben und seine Kinder wieder kennen zu lernen.«
Apollo senkte das Haupt.
Lucy wurde von Panik erfasst und geriet umso fester in den eisigen Klammergriff der Angst, je mehr sie erinnerte: Sylvie, die ihrem Papa liebevoll die schlanken Arme um den Hals schlang; der kleine Gilligan, der seinen Vater ritt wie ein Pony und dabei die dicken, marmeladeverschmierten Fingerchen in des Grafen graues Haar klammerte; Lord Howell, wie er seine ungestümen Söhne in einer Reihe aufstellte, um ihnen beizubringen, wie man sich das Halstuch knotete. Jetzt, wo Lucy keinen eigenen Vater mehr hatte, erschien ihr die Aussicht, eine solch wundervolle Vaterfigur zu verlieren, noch unerträglicher.
»Seine Kinder«, echote sie, ohne sich überhaupt der Wirkung ihrer Worte auf Gerard bewusst zu sein.
Er zog ihr das Fernglas aus den verkrampften Fingern. »Kanonen?«, kläffte er.
Sie zuckte die Achseln und begriff nicht, was die Bewaffnung des zum Untergang verurteilten Schiffs noch für eine Rolle spielen sollte.
»Zwanzig, höchstens fünfundzwanzig.«
»Mannschaft?«
»Über einhundert.«
Kevin schoss aus seiner komfortablen Hängematte, als habe ihm jemand eine Lunte an die perfekt polierten Stiefelspitzen gehalten. »Kein einziges Wort mehr, Süße. Sporn diesen Wahnsinnigen nicht auch noch an. Begreifst du denn nicht, was er vorhat?«
Als Lucy Gerards gequälten Blick sah, wusste sie augenblicklich, was er vorhatte. Und was es ihn kosten konnte.
Sie umklammerte die Reling und blickt verzweifelt zum Kampfgeschehen hinüber. Sogar aus der Entfernung war zu sehen, dass die Courageous bereits Schlagseite hatte. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis die Franzosen sie enterten und die Ladung plünderten, bevor die Fregatte spurlos in der eisigen See versank.
Ein jeder Mensch ist seines eigenen Schicksals Herr.
Lucys eigene Worte verfolgten sie. Das hier war vielleicht Gerards letzte Chance, sich seinen Traum zu erfüllen und seinem Land und seinem König zu dienen. Einen Traum, den er zynischerweise hatte aufgeben müssen, weil ein paar korrupte Männer nur ihrer eigenen Gier gedient hatten.
Tief im Herzen wusste sie, dass sie ihn nie von seinem Kurs würde abbringen können, und sie würde sich nicht vor ihm erniedrigen, indem sie es versuchte. Wenn er der Typ von Mann war, der guter Dinge an der Courageous vorübersegeln und ihre Not ignorieren konnte, dann war er nicht der Mann, den sie liebte.
Das stolze Blitzen in Lucys Augen war Kevin Warnung genug, sich fluchend wieder in die Takelage zu verziehen.
Lucy schlug die Fersen zusammen und hob die Hand zum formvollendeten Salut. »Schießpulvermäuschen Snow meldet sich zum Dienst, Sir.«
Von unheilvoller Stille umgeben, glitt das Geisterschiff aus dem Nebel. Die seidenen Segel bauschten sich wie die rabenschwarzen Flügel eines Racheengels. In einer Nacht, wo nirgendwo Nebel in Sicht war, waberten Dunstschwaden über das verlassene Deck. Die anmutige Takelage glitzerte im Mondlicht wie ein todbringendes Spinnennetz.
Als das Schiff unwiderstehlich auf sie zukam, sprangen ein paar unglückliche Franzosen auf der Stelle über Bord, weil sie den sicheren Tod dem unbekannten Grauen vorzogen.
Später würden die Abergläubischeren unter den französischen Matrosen ihrem skeptischen, aber beeindruckten Ersten Konsul berichten, dass es sich nicht um ein einzelnes Schiff gehandelt habe, sondern um eine ganze Flotte aus Geisterschiffen, die aus den Docks der Hölle ausgelaufen war, weil Satan eifersüchtig war auf diesen Napoleon Bonaparte, der sich das erobern wollte, was schon ihm versprochen war – die ganze Welt.
Die entsetzliche Geschwindigkeit, mit der das schreckliche Schiff sich näherte, und das Chaos, das es entfachte, gab den Spekulationen zusätzlich Nahrung.
Die englische Beute war längst vergessen, als die beiden französischen Schwesterschiffe sich zu einem hastigen Fluchtversuch formierten, um dem Unausweichlichen zu entgehen. Gefangen im Strudel der eigenen Angst, krängten sie durch die Wellen. Doch das gnadenlose Geisterschiff schnitt auf Handesbreite zwischen ihnen hindurch und glitt so geschwind und lautlos vorüber, dass es schon wieder außer Sicht war, bis der entsetzte Kanonier einen Schuss feuern konnte.
Die verspätete Kanonenkugel zertrümmerte den Mast des Schwesterschiffs und schredderte das Topsegel. Die beiden Rahsegler kollidierten, und ein Getöse aus
Weitere Kostenlose Bücher