Verführt: Roman (German Edition)
plötzlich dem Vorderdeck galt.
Dem Grafen klappte vor Verblüffung der Unterkiefer herunter. »Claremont? Sind Sie das, mein Junge? Ich dachte, Sie hätten sich nach Lucys Entführung vor Scham davongeschlichen. Gütiger Himmel, ich hatte keine Ahnung, dass Lucien Sie losgeschickt hat, sein kleines Mädchen zu retten! Da haben Sie ja hervorragende Arbeit geleistet! Ein richtiger Held, sozusagen.«
Lucy hielt den Atem an und wagte, aus Angst sich zu verraten, kaum noch zu zwinkern. Eine wilde, neue Hoffnung ließ ihr Herz rasen, als ihr klar wurde, dass der Admiral – im feigen Versuch, seine eigenen Missetaten geheim zu halten – Gerards wahre Identität nicht öffentlich enthüllt hatte.
»Bitte, lieber Gott, bitte«, betete sie leise vor sich hin, während sie Gerard vom Vorderdeck herunterkommen sah. »Bitte lass ihn jetzt klug handeln.«
Er handelte – aber wie! Er kam mit einer solch atemberaubenden Lässigkeit übers Hinterdeck geschlendert, dass ihr vor Sehnsucht der Mund trocken wurde. »Ersparen Sie mir solche Lobeshymnen, Sir«, sagte er gedehnt. »Gerard Claremont ließe sich davon vielleicht beeindrucken, aber ich darf Ihnen versichern, Captain Doom hat an so etwas nicht das leiseste Interesse.«
31
Lucy schlug die Hand vor den Mund, um nicht vor Entsetzen aufzustöhnen.
Zu Lord Howells Ehre muss gesagt sein, dass er echt bedrückt und nicht im Geringsten erfreut wirkte, solch einen bedeutenden Fang gemacht zu haben. »Claremont, wollen Sie etwa behaupten, Sie seien Captain Doom?«
Kevin kam vom Fockmast gesprungen. »Schwachsinn, er ist nur ein feiger Hochstapler. Ich bin Captain Doom!«
Ohne überhaupt hinzusehen, holte Gerard mit der Faust aus und schlug seinem Bruder ins Gesicht. Kevin fiel um wie ein Sack Kartoffeln.
Gerard grinste reuelos. » Ich bin Captain Doom. Er ist bewusstlos.«
Lucy kam auf ihn zugelaufen. Gerard seufzte und zögerte, sich ihrer im gleichen Stile zu entledigen. Ein Blick in ihr verzweifeltes Gesicht, und Lord Howell würde sie beide in Eisen legen lassen. Er packte sie bei den Schultern und ließ es aussehen, als klammere er sich an sie. Dann zog er die Pistole aus der Hosentasche und hielt sie ihr an die Schläfe.
»Wenn wir unseren nächsten Walzer nicht unterm Galgenbaum tanzen wollen, sind wir jetzt besser überzeugend«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Lucy hatte kein Problem damit, überzeugend zu sein. Sie war außer sich. Gerard war der gleiche Tyrann wie ihr Vater, der ständig selbstherrlich über ihre Zukunft entschied, ohne sie vorher zu fragen.
»Warum hast du es zugegeben, du Vollidiot?«, geiferte sie gequetscht, während sie in seiner alles andere als zärtlichen Umarmung zappelte.
»Er ist ein kluger Kopf«, erwiderte Gerard mit zusammengebissenen Zähnen und ächzte, als ihr boshafter Absatz seine Zehen schier platt trat. »Er hätte nicht lange gebraucht, es selber herauszufinden. Hör mir zu, verdammt! Wir haben nicht mehr viel Zeit. Sobald wir in London sind, gehst du sofort zu Smythe.«
»Und Sie, Sir, marschieren direkt in die Hölle«, flüsterte sie.
Dass Lucy zum förmlichen »Sir« zurückgekehrt war, verhieß nichts Gutes. Er fürchtete, sie werde sich aus purer Wut selber belasten, und spannte den Abzug der Pistole.
Lucy war vor Schock wie gelähmt und fragte sich doch tatsächlich, ob er sie jetzt erschoss, weil sie ihm die Zehen zerquetscht hatte. Sie unterdrückte ein hysterisches Kichern und konnte es nur noch absonderlich finden, welch perverses Glück ihr seine warme Umarmung bereitete, während er ihr Leben in seinen skrupellosen Händen hielt.
An Deck drohte unterdessen die Anarchie auszubrechen. Die Männer der Courageous hatte die Schwerter blank gezogen, um die wassertriefenden Pistolen wettzumachen, während ihre widerwilligen Gastgeber vor Zorn schäumten, weil man ihren Captain bedrohte. Apollo trat einen Schritt vor, und seine Größe allein reichte aus, einen käseweißen Burschen das Schwert wegstecken zu lassen. Die Mannschaft der Retribution mochte in der Unterzahl sein, unterlegen war sie nicht.
Gerards autoritäre Stimme brachte alle zur Ruhe. »Ich stelle nur eine Bedingung, Lord Howell, dann ergebe ich mich.«
Der Earl sah Lucy besorgt an. »Und welche wäre das, Sir?«
»Dass die heldenhafte, selbstlose Rettungsaktion, mit der meine Mannschaft der Courageous zu Hilfe gekommen ist, gebührend gewürdigt und jeder, wirklich jeder, begnadigt wird.«
Lord Howell nickte feierlich. »Ich werde mit aller
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