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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Apotheker. Sie hatte ihrer Mutter versprechen müssen, auf offener Straße auf keinen Fall den Namen Calori laut zu nennen, und der Apotheker, der oft genug mit ihrem Vater gesprochen hatte, war in der Tat derjenige gewesen, der Lucia die Pfandleihe empfohlen hatte.
    Als sich die Tür öffnete, war der Mann dahinter keineswegs schwarzbärtig und unheimlich, wie sich Angiola einen jüdischen Pfandleiher vorgestellt hatte. Nein, der Mann vor ihr war rotblond und trug die Haare sogar gepudert, wie es der falsche Weinhändler auch getan hatte.
    »Dann kommen Sie herein, Signorina«, sagte er freundlich.
    In dem Zimmer, in das er sie führte, saß eine strickende Frau, und Angiola war der Ansicht, dass sie nun genug Vorsicht hatte walten lassen. Sie packte den schönen gelben Atlasrock aus, den sich der Vater an Festtagen übergeworfen hatte, und seine braunen Samthosen, die zwar etwas abgewetzt waren, aber dafür keine Flecken hatten.
    »Ja«, sagte der Pfandleiher Giuseppe, »das kann ich für Ihre Mutter notfalls verkaufen, aber des altmodischen Schnittes wegen werden sich kaum mehr als dreißig Lira dafür erhandeln lassen.«
    »Meine Mutter will dreieinhalb Zechinen dafür haben«, sagte Angiola empört, wobei sie die Zahl etwas höher ansetzte, weil sie wusste, dass in Bologna die Zechine nur siebzehn Lire hatte. Drei Zechinen, hatte Lucia gesagt. Aber Angiola hatte oft genug Leute auf dem Marktplatz beobachtet, um zu wissen, dass man niemals auf das erste Angebot eingehen durfte und immer einen höheren Preis nennen musste, als man letztlich erwartete.
    »Das ist zu viel«, entgegnete Giuseppe kopfschüttelnd. »Niemand trägt mehr so weite Hosen.«
    »Aber Dottore Moise hat gesagt, Sie wären gut in Ihrem Geschäft. Dreißig Lire könnten wir selbst bekommen«, behauptete Angiola und ahmte den falschen Weinhändler nach, wie er, das erste Mal um Miete gebeten, erklärte, die Nachbarin Ceccha habe ihm ein wesentlich günstigeres Angebot und drei Zimmer offeriert.
    Die Mundwinkel des Pfandleihers zuckten. »Nun, vielleicht kann ich den Preis auf zweieinhalb Zechinen hochtreiben. Mit sehr viel Glück.«
    »Mit Glück könnten Sie dreieinhalb bekommen«, beharrte Angiola. »Ohne Glück drei. Aber das ist ein venezianischer Atlasrock, und jeder weiß, dass die schönsten Moden immer aus Venedig kommen. Mein Papa hat ihn für viel, viel mehr Geld gekauft, das weiß ich bestimmt. Und er hat überhaupt nur zweihundertfünfzig Zechinen im Jahr verdient! Sich so einen feinen Atlasrock zu kaufen war ein großer Luxus für ihn!«
    Am Ende versprach ihr der Pfandleiher drei Zechinen, und Angiola verließ glücklich das Haus. Inzwischen hatten sich die grauen Wolken am Himmel verdichtet, und als es zu regnen begann, konnte sie kaum noch den größeren der beiden gewaltig aussehenden Türme ausmachen, die man tagsüber im Ghetto selbst noch in der engsten Gasse erspähen konnte. Vielleicht sollte sie den Pfandleiher fragen, ob sie bei ihm warten könne, bis der Regen vorbei war. Aber sie wusste, dass ihre Mutter sich große Sorgen machte, sowohl des Geldes als auch Angiolas wegen. Erst heute früh hatte die Nachbarin gemeint, Angiola sei nun zu alt, um ohne Begleitung durch die Stadt zu laufen. Es verletze die Schicklichkeit. Lucias Einwand, ihre Tochter blute noch nicht und sei daher noch ein Kind, hatte nur ein Naserümpfen bei der Ceccha ausgelöst.
    Also lief sie, so schnell es eben ging, und rutschte nur einmal aus. Ihr Kleid war aus Leinen, und der Schmutzfleck über dem Knie würde sich waschen lassen. So wie es regnete, war der Dreck bei ihrer Ankunft daheim bereits halb fortgespült, hoffte Angiola.
    Als sie die zu den Hauptgebäuden der Universität führende Straße erreicht hatte, gab es auch wieder Arkaden an den Fassaden, aber es hatten sich so viele Leute dort untergestellt, dass es sich schneller auf den Straßen lief. Angiola wich einer vorbeifahrenden Kutsche aus und wäre beinahe an der Seitenstraße vorbeigelaufen, die zu ihrem Haus führte. Mittlerweile hingen ihr die Zöpfe wie nasse Taue über die Schultern, und sie fühlte sich wie eine dem Kanal entschlüpfte Ratte.
    Sie bereitete sich darauf vor, sehr laut an die Tür pochen zu müssen, damit ihre Mutter sie bei dem prasselnden Regen überhaupt hörte, doch zu ihrer Überraschung stand eine der kleinen Sänften vor der Tür, wie sie in Bologna eigentlich nur die Patrizier benutzten. Die beiden Sänftenträger trugen nicht die Livree einer der großen

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