Verführung Der Unschuld
auf jedem Bissen herum. Ihr war fast schlecht vor Angst. Schließlich legte
sie die Gabel auf dem noch halb vollen Teller ab.
»Hast du etwas? Geht’s dir nicht gut?« Eleonora zog fragend die Augenbrauen hoch. Giulia
schüttelte verneinend den Kopf. »Nun sag schon!«
»Ach, lass mich doch in Ruhe! Ich habe einfach keinen Appetit.« Giulia stand auf. Der Stuhl
quietschte auf dem Fußboden, als sie ihn ruppig nach hinten schob. Ohne einen Gruß ging sie
hinaus und hinüber ins Gesindehaus. Sie zog ihre Dienstmädchenkleidung aus, ein T-Shirt
und Jeans an, und warf sich bäuchlings aufs Bett. Was sollte sie tun, wenn das Schlimmste
eintrat, und sie gehen musste? Sie würde sich nicht trauen, ihren Eltern unter die Augen zu
treten! Welche Alternative hatte sie aber? Sie stützte ihren Kopf auf die Hände. Am liebsten
hätte sie aus Wut und Verzweiflung geweint, aber das wollte sie auf keinen Fall riskieren! Mit
verheulten Augen würde sie Signor Federico nicht gegenübertreten. Das wäre ja beinahe ein
Schuldeingeständnis! Sie hatte Angst, verdammte Angst! Aber sie würde keine Schwäche
zeigen!
Es war schon fast zehn Uhr, als es klopfte und Antonella ihr mitteilte, dass sie hinüber ins
Arbeitszimmer der Signori kommen solle. Dabei entging Giulia der sorgenvolle Blick der
Älteren, die sich seit Stunden fragte, ob Giulia log oder Opfer einer Intrige war.
***
Ein schmaler Streifen Licht fiel durch die offen stehende Tür des Arbeitszimmers in den Flur,
der aufgrund der indirekten Beleuchtung im Halbdunkeln lag. Giulia holte tief Luft, ehe sie
sich hineinwagte, dann machte sie schnell und schloss die Tür hinter sich.
Wie beim letzten Mal saßen die Brüder an ihren Schreibtischen, aber ihre Gesichter waren
kaum zu erkennen, da die einzige Lichtquelle, die Halogenschreibtischlampe an Federicos
Tisch, genau auf ihr Gesicht gerichtet war. Sie blinzelte dagegen an. Die drei Teile der
Figurengruppe lagen auf Federicos Tischplatte.
Ehe einer der beiden etwas sagen konnte, platzte Giulia grußlos heraus: »Ich war das nicht!
Ich weiß nicht, wie die Figuren kaputt gegangen sind – aber ich war es nicht, Signor Federico!
Vielleicht war der Badewannenrand noch ein bisschen feucht und sie sind heruntergerutscht.«
Sie blickte in seine Richtung, dann zu Lorenzo, dann wieder zu Federico, aber beide
erwiderten nichts. Die Stille war bedrückend. »Bitte …« Die restlichen Worte ihrer
Verteidigung blieben Giulia sprichwörtlich im Hals stecken, als Federico die Lampe soweit
senkte, dass sie nicht mehr davon geblendet wurde, und sie sich stattdessen nun seinem
finsteren Blick gegenübergestellt sah.
»Weißt du, wenn du geständig gewesen wärst, hätten wir über die Höhe deiner Bestrafung
reden können. Es ist dir ja wohl klar, dass diese Figuren einzigartig sind und auch einen
gewissen materiellen Wert haben, den du mit deinem Verdienst kaum ersetzen kannst. Aber
mit einer Lügnerin will ich nichts zu tun haben. Am besten, du packst deine Sachen und gehst
noch heute.« Federico zwang sich zu einem fast ausdruckslosen Gesicht, obwohl er
vollkommen angespannt wartete, wie Giulia reagieren würde. Er hatte verschiedene
Strategien geplant, um auf jeden Fall zu seinem Ziel zu kommen.
Sekundenlang starrte sie ihn ungläubig an. Das durfte, nein, das konnte nicht wahr sein! Sie
war unschuldig! Wieso glaubte ihr denn keiner?
»Bitte, Signor Federico, Signor Lorenzo, ich bin wirklich unschuldig! Bitte glauben Sie mir
doch! Bitte – Sie dürfen mich nicht entlassen! Was soll ich denn dann machen? Wo soll ich
denn hingehen?«
»Das hättest du dir vorher überlegen müssen!«, mischte sich nun Lorenzo ein. Seine Stimme
klang ein wenig milder als die seines Bruders. »Wir können niemanden in unserem Haushalt
dulden, der sich ungeschickt anstellt und dann noch nicht einmal bereit ist, seinen Fehler
zuzugeben! Vielleicht denkst du noch mal darüber nach, ob du uns nicht doch etwas zu
beichten hast?«
Vor Giulias Augen verschwamm alles. Die beiden Männer, die Möbel, der Raum – alles
wurde eins. Sie kämpfte verzweifelt gegen ihre Tränen und eine Ohnmacht an, die sich
surrend in ihren Ohren androhte. Die Signori waren doch immer so freundlich zu ihr gewesen,
hatten jeden Morgen ein nettes Wort an sie gerichtet – und nun starrten die beiden sie mit
einheitlich strenger Miene an, und ihr wurde klar, dass jegliches Leugnen zwecklos war. Sie
würde wohl noch heute Abend ihren Job verlieren – es sei denn …
Schweren
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