Verführung Der Unschuld
Seitenangaben ausgehändigt hatte.
Noch ein Mitwisser mehr, hatte sie bei sich gedacht. Sein Gesicht war dabei ausdruckslos wie
immer gewesen.
Drei Bücher – und genügend Zeit. Aber trotz aller Vorsätze, sie wusste, dass sie zu Hause
nicht lernen würde. Außerdem, wie sollte sie ihrer Mutter ihr plötzliches Interesse für
Literatur, Mathematik und Geschichte erklären? Schließlich fand sie das beste Alibi
überhaupt, als sie den Reißverschluss ihrer Reisetasche mit Mühe zuzerrte: es war kein Platz
in ihrem Gepäck! Um ihr schlechtes Gewissen zu besänftigen, packte sie das kleinste der
Bücher ein, ein Buch über italienisch-römische Frühgeschichte.
Die ganze Woche über gelang es ihr erfolgreich, jegliche Gedanken an diese Aufgaben zu
verdrängen. Aber auf der Rückfahrt am Sonntag fiel es ihr wieder siedendheiß ein. Noch vier
Abende. Zu wenig, um alles zu bewältigen. Ein wenig Panik kam in ihr auf. Sie hatte keine
genaue Vorstellung von dem, was sie erwartete, wenn sie nicht gelernt hatte. Aber das
Mindeste würde wohl sein, dass Federico sie übers Knie legen würde. Wenn sie ehrlich zu
sich selbst war, dann war diese Aussicht aber nicht allzu abschreckend, sondern vor allem
sehr aufregend. Giulia seufzte.
Sie nahm das Geschichtsbuch aus ihrer Tasche und schlug die angegebenen Seiten auf, eine
Abhandlung über den Sittenverfall des späten römischen Reiches. Wie langweilig. Mürrisch
begann sie zu lesen, Seite um Seite, bis das eintönige Geräusch des Zuges sie schläfrig
machte, und ihre Lider zufielen.
***
Den ersten Arbeitstag nach der freien Woche empfand Giulia als besonders anstrengend und
ermüdend. Gähnend setzte sie sich abends an ihren Tisch. Es musste sein, und sie beschloss
den wahrscheinlich schwierigsten Teil, die Matheaufgaben, zu erledigen. Doch schon nach
kurzer Zeit stellte sie erleichtert fest, dass sie damit überhaupt keine Probleme hatte.
Offensichtlich legten Federico und Lorenzo Wert darauf, dass sie Prozentrechnen beherrschte.
Genau das aber war stets eine ihrer wenigen Stärken in Mathe gewesen.
Als sie eineinhalb Stunden später das Zimmer verließ, um sich mit Federico im Pavillon zu
treffen – sie hatte ein Briefchen mit Orts- und Zeitangabe auf ihrem Tisch vorgefunden – war
sie beruhigt. Wenn die übrigen Aufgaben auch so einfach waren, hatte sie sich völlig umsonst
Sorgen gemacht und noch ausreichend Zeit, Geschichte zu lernen.
Federico fluchte unanständig vor sich hin. Es passte ihm gar nicht, als Giovanni ihm und
Lorenzo Besuch meldete. Zwei ehemalige Schulfreunde, die in Mailand lebten und arbeiteten,
waren unangekündigt vorbeigekommen. Es war schon fast Mitternacht, als sie endlich wieder
abfuhren. Wahrscheinlich hatte Giulia das Warten längst aufgegeben und war enttäuscht in ihr
Zimmer zurückgegangen. Federico wusste selbst nicht, warum er überhaupt noch zum
Treffpunkt ging. Vielleicht, weil ihn nicht sein Kopf, sondern seine Hormone drängten.
Jedenfalls war es wie ein Zwang. Er musste nachsehen und sich vergewissern, dass sie nicht
mehr da war. Sonst würde er nicht schlafen. Er konnte kaum vor sich selbst zugeben, dass
dies möglich war, aber es war so.
Als er den Pavillon in tiefer Dunkelheit vor sich liegen sah, fühlte er sich in seiner
Befürchtung bestätigt. Er atmete tief durch, stieß die Luft ruckartig aus und schaute zum
Himmel hinauf. Es war eine klare Nacht, wie gemacht, um Sternbilder zu beobachten.
Schade, dass es keines in Herzform gab, das Liebenden vorbehalten war. Er schüttelte den
Kopf. Wie kam er denn auf diesen sentimentalen Mist? Er liebte Giulia nicht. Er begehrte sie
lediglich, weil sie seine sexuellen Bedürfnisse stillte.
Bevor er sich umdrehte, um zurückzugehen, warf er noch einen letzten Blick auf den
Pavillon, und da war es ihm, als wäre doch ein schmaler Lichtschein zu sehen. Er ging näher
heran und da sah er, dass die Vorhänge zugezogen waren, sich aber auf der Innenseite der Tür
nicht exakt überlappten, und ein bisschen Licht durch diesen Schlitz nach außen drang.
Nervöses Herzklopfen setzte ein. Er fuhr sich einmal mit den Fingern durch die kurz
geschnittenen dunklen Haare und leckte sich über die Lippen. War Giulia etwa doch noch da,
oder hatte sie ihm wenigstens eine Nachricht hinterlassen?
Er öffnete die Tür und schob die Vorhänge nach beiden Seiten auseinander. Der Raum war
von Dutzenden Teelichtern erhellt, die in gelben, roten und violetten Gläsern brannten und
dabei sanft flackerten,
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