Verfuehrung im Mondlicht
teuren Verschiedenen zu Ohren kommen, von denen sie lieber nichts gewusst hätten.«
Annie zögerte. »Ich verstehe, was Ihr meint, Sir. Aber Nellie war meine Schwester. Wie wir alle hat sie nur getan, was sie tun musste, um zu überleben. Im Grunde ihres Herzens war sie ein anständiger Mensch. Ich werde nicht mehr in den Spiegel schauen können, wenn ich nicht wenigstens versuche herauszufinden, wer ihr dieses abscheuliche Unrecht angetan hat.« »Verstehe, Mrs. Petrie. Ich verständige Euch, sobald ich Antworten gefunden habe.«
»Danke, Sir, ich bin Euch sehr dankbar.« Sie räusperte sich. »Soweit ich gehört habe, verlangt Ihr ein gewisses Honorar für Eure Dienste.«
»Man muss für alles bezahlen, Mrs. Petrie.«
Bei seinen Worten fröstelte es Annie erneut, doch sie wich nicht zurück. »Ja, nun, dann sollten wir wohl klären, was ich zu zahlen habe. Ich kann zwar vom Verkauf meiner Schirme bescheiden leben, aber ich bin keine wohlhabende Frau.«
»Ich verlange für meine Dienste kein Geld, Mrs. Petrie. Mein Honorar besteht eher aus Gefälligkeiten.«
»Wie bitte, Sir?« Annie bekam es wieder mit der Angst zu tun. »Ich ... ich bin nicht sicher, ob ich Euch recht verstehe.«
»Möglicherweise kommt einmal der Moment, in dem ich Verwendung für einen oder zwei Sonnenschirme hätte. Sollte diese Gelegenheit sich ergeben, benachrichtige ich Euch umgehend. Stimmt Ihr meinen Bedingungen zu?«
»Jawohl, Sir«, hauchte Annie. Sie war vollkommen verblüfft. »Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, aus welchem Grund Ihr Damensonnenschirme benötigen solltet, Sir.«
»Man kann nie wissen. Auf jeden Fall ist unsere Abmachung damit besiegelt. Verratet niemandem, dass Ihr mich heute Nacht hier getroffen habt.«
»Nein, Sir, ganz bestimmt nicht. Das versichere ich Euch.«
»Gute Nacht, Mrs. Petrie.«
»Gute Nacht, Sir.« Annie war einen Moment ratlos. »Danke«, setzte sie schließlich hinzu.
Dann drehte sie sich um und ging zügig zum Eingang des Friedhofs zurück. Als sie das Portal erreicht hatte, drehte sie die Laterne hoch und eilte nach Hause zurück, in die vertraute Wärme ihrer behaglichen Zimmer über ihrem Schirmgeschäft.
Sie hatte getan, was sie tun konnte. Die Gerüchte, die sie gehört hatte, schienen jedenfalls in einem Punkt glaubhaft zu sein, was immer sonst noch an den Geschichten um diesen Fremden dort auf dem Friedhof stimmen mochte: Man konnte darauf vertrauen, dass er sein Wort hielt.
2
Die zweite Explosion hallte laut durch die uralten Steinmauern, durch die das geheime Treppenhaus führte. Die Laterne, die Concordia Glade in der Hand hielt, schwankte leicht von der mächtigen Erschütterung. Das gedämpfte Licht waberte in der eisigen Finsternis, durch welche die vier jungen Mädchen Concordia die Treppe hinab folgten.
Sie alle, Concordia eingeschlossen, zuckten zusammen und hielten unwillkürlich den Atem an.
»Wenn die Treppe nun zusammenbricht, bevor wir unten angekommen sind?« Hannah Radburns bebende Stimme verriet, dass die junge Frau unmittelbar vor einem hysterischen Anfall stand.
»Diese Mauern brechen nicht zusammen.« Concordias Versicherung klang weit zuversichtlicher, als sie sich in Wahrheit fühlte. Sie hielt die Laterne ruhig und schob ihre Brille fester auf die Nase. »Ihr erinnert euch hoffentlich daran, dass wir die Geschichte des Baus von Aldwick Castle sehr gründlich durchgenommen haben, bevor wir entschieden, an welchen Stellen wir die Sprengsätze platzieren. Dieser Teil der Burg steht schon seit mehreren hundert Jahren. Es ist der älteste und solideste Teil des Bauwerks. Er wurde so konstruiert, dass er selbst dem Angriff von Katapulten standhalten konnte. Also wird er bestimmt auch heute Nacht nicht zusammenbrechen.«
Jedenfalls bete ich darum, dass er es nicht tut, fügte sie in Gedanken hinzu.
In Wahrheit jedoch hatte die Wucht der beiden dumpfen Explosionen ihre Erwartungen, gelinde gesagt, bei weitem übertroffen. Die erste hatte sämtliche Fenster im neuen Flügel zerstört, dicht neben dem Salon, in dem die beiden Männer aus London nach dem Dinner ihre Zigarren und ihren Port genossen. Von ihrem Standort im Klassenzimmer im alten Abschnitt der Burg aus hatte sie beobachtet, wie die Flammen mit erschreckender Geschwindigkeit und Gewalt aus den leeren Fensteröffnungen loderten.
Die zweite Ladung hatten sie so abgestimmt, dass sie einige Minuten nach der ersten hochging. Dieser Sprengsatz hatte offenbar noch größeren Schaden
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