Verfuehrung unterm Silbermond
ausgerichtet. Aber nur, weil du eine so perfekte Haushälterin bist, sagte sie sich. Jahrelang hast du schließlich nichts anderes gemacht.
Sie beobachtete, wie er aus dem Wagen stieg und auf sie zukam. Die Wintersonne warf einen Schimmer auf sein schwarzes Haar, und der dunkle Kaschmirmantel, den er trug, war ihr noch immer so vertraut. Dennoch ging sie ihm nicht entgegen. Sie konnte nicht. Ihre Beine waren wie angewurzelt in der harten, gefrorenen Erde, die sie den ganzen Morgen über schon aufzubrechen versuchte.
Aber sie spürte, wie ihr Puls zu rasen begann, als Raffaele näher kam. Vergeblich versuchte sie, den Ausdruck auf seinem Gesicht zu erkennen, irgendetwas darin zu lesen. Sie wollte sich seine Züge verinnerlichen, und gleichzeitig hätte sie am liebsten die Beine in die Hand genommen und wäre gerannt, so weit weg wie nur möglich.
Sie bemühte sich um ein Lächeln, doch die kalte Luft schien ihr Gesicht eingefroren zu haben. Und dann wurde ihr plötzlich erschreckend klar, wie sehr sie ihn vermisst hatte.
„Hallo, Raffaele.“
„Hallo, Natasha.“
Sie sahen einander lange an.
„Das ist … wirklich eine Überraschung.“
Er nickte. „Ja.“
„Möchtest du … möchtest du hereinkommen?“
Anstatt hier draußen in der Kälte zu stehen? Er sah auf den Boden, wo große dunkle Erdklumpen lagen. Unwillkürlich musste er an die Lebkuchen denken, die Natasha immer zu Weihnachten gebacken hatte. „Du legst einen Garten an?“ Sagte ihm das nicht bereits genug? Sie war sesshaft geworden. Man pflanzte nichts an, wenn man nicht vorhatte, lange genug zu bleiben, um die Pflanzen auch wachsen zu sehen.
Natasha würde ihm nicht erklären, dass das Gärtnern für sie zu einer Art Therapie geworden war. Damit konnte sie sich beschäftigen, und es lenkte sie von den ständig gleichen Gedanken ab, die sich um Raffaele drehten.
„Ich bin noch Anfängerin“, gestand sie. Doch dann erinnerte sie sich an das letzte Gespräch zwischen ihnen. Es hatte ebenso höflich begonnen und schrecklich geendet. Er hatte ihr unterstellt, auf eine Ehe mit ihm aus zu sein, weil sie sich an den Luxus gewöhnt hatte, den er ihr bieten konnte.
Sie arbeitete nicht mehr für ihn! Sie brauchte nicht mehr vor ihm zu kuschen! Sie war frei von ihm. Auch wenn sie das gar nicht sein wollte.
„Raffaele, warum bist du hier?“
Die Frage – durchaus logisch und berechtigt – überrumpelte ihn. Er hatte sich nicht überlegt, was er sagen wollte. Und er, der nie um Worte verlegen war und der so oft beißend spöttisch sein konnte, hatte nicht die geringste Ahnung, was er antworten sollte. Fand er keine Antwort, weil es keine gab?
„Wollten wir nicht hineingehen?“
Natasha zuckte mit den Schultern. „Sicher.“
Sie zog sich die Handschuhe von den Fingern und stopfte sie in die Jackentaschen. Raffaele folgte ihr ins Haus. Er musste den Kopf einziehen, um unter dem niedrigen Türrahmen hindurchgehen zu können.
Natasha zog sich die Mütze vom Kopf, und Raffaele konnte sehen, dass die teuren blonden Strähnchen ausgewachsen waren. Der Haaransatz kam deutlich zum Vorschein, und es hätte eigentlich trist aussehen sollen, doch das tat es nicht. Denn ihr Haar schimmerte natürlich und voller Lebendigkeit.
Raffaele sah sich in dem kleinen Cottage um. Natasha hatte hier ein gemütliches Nest geschaffen, wie sie es immer und überall tat. Ein Topf mit Suppe stand auf dem Herd, an der Kühlschranktür hingen Sams Zeichnungen. In der Mitte des sauber polierten Küchentischs stand ein Krug mit blühenden Zweigen. Und ein aufgeschlagenes Buch über französische Grammatik lag auf dem Tisch.
Raffaeles Blick glitt erst zu dem Buch, dann zu Natasha. „Hast du Italienisch aufgegeben?“
Sie hatte schreckliche Angst, dass sie etwas extrem Dummes tun würde. Zum Beispiel in Tränen ausbrechen. Oder ihm gestehen, wie grau und dumpf ihr Leben ohne ihn war. Wütend blinzelte sie die Tränen fort, die in ihren Augen brannten. Hatte er denn nicht bekommen, was er wollte? Den Sex, inklusive einiger Zugaben?
„Wieso bist du hergekommen?“, wollte sie erneut wissen.
„Ich habe ein Weihnachtsgeschenk für Sam.“
„Oh.“ Natashas Gefühle glichen einem Chaos. Obwohl sie nicht über ihre von vornherein zum Scheitern verurteilte Beziehung sprechen wollte, war sie dennoch bitter enttäuscht, dass auch Raffaele wenig an dem Thema zu liegen schien. „Das ist nett.“
„Ist er hier?“
„Nein, er spielt draußen mit einem
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