Verfuhrt auf dem Maskenball
ihm gehört. Aber das war nicht der Fall. Wenn sie an den Brief dachte, den sie für ihn zurückgelassen hatte, so sprach sein Verhalten Bände. Offensichtlich war sie ihm egal.
Wie sehr sie sich auch bemühte, ihre Trauer war eine schwere Last, die sie beinah erdrückte. Jeder Tag erschien ihr grau in grau, jede Nacht verbrachte sie fast schlaflos. Aber sie bedauerte nichts. Jede Erinnerung an ihn hütete sie wie einen Schatz, von dem Augenblick an, da sie ihn das erste Mal gesehen hatte, bis zu jenem Tag, an dem er sie zum letzten Mal in seinen Armen gehalten hatte. Wenn die Erinnerungen nur nicht so schmerzlich wären!
Angeblich heilte die Zeit alle Wunden. Lizzie glaubte sogar daran, doch war offensichtlich noch nicht genügend Zeit verstrichen, um ihren Schmerz zu lindern. Und auch den Kummer darüber, Ned bei ihm zurückgelassen zu haben, hatte die Zeit noch nicht heilen können. Manchmal vermisste sie ihren kleinen Jungen mehr, als sie Tyrell vermisste. Doch war sie davon überzeugt, das Richtige getan zu haben. Tyrell und ihren Sohn zu verlassen war ihr unendlich schwer gefallen, doch Ned gehörte zu Tyrell, und Tyrell gehörte zu der Frau, die bald seine Gemahlin sein würde.
Jeden Tag fasste sie von Neuem den Entschluss, nicht mehr an die beiden zu denken. Sie konzentrierte sich auf nächstliegende Dinge, ob sie nun ihre Tante zum Tee begleitete, Georgie zum Einkaufen oder sich im St. Anne’s um Kranke kümmerte, doch am Ende war das alles umsonst. Die Erinnerungen überkamen sie oft gänzlich unerwartet, und mit ihnen kam jedes Mal die Trauer. Während sie im Park spazieren ging, erinnerte sie sich plötzlich an ein Wort, eine Berührung, einen Blick.
Wenigstens ging es Ned gut. Die Countess hatte ihr geschrieben, dass er von seinem Vater und seinen Großeltern verwöhnt wurde und dass seine Schuhe ihm zu klein geworden waren. Außerdem konnte er jetzt schon in ganzen Sätzen sprechen. Über diesem Brief brach Lizzie in Tränen aus. Sie wagte es, darauf zu antworten, bedankte sich für die Neuigkeiten und bat darum, ihr mehr zu schreiben, wann immer die Countess die Zeit dafür fand.
Lizzie war dankbar, dass das Erinnerungsvermögen von Kindern noch nicht sehr ausgeprägt war, und wenn Ned sie am Anfang auch vermisst haben mochte, so würde das inzwischen glücklicherweise überwunden sein. Ob Tyrell ebenfalls glücklich war?
Vermutlich weilte er mit seiner Familie, seiner Verlobten und seinem Sohn zusammen auf Adare. Sie versuchte, ihn sich mit Blanche vorzustellen, wie er diese so anlächelte, wie er sie, Lizzie, angelächelt hatte, aber es tat zu weh. Sie hoffte, dass er glücklich war, und beließ es dabei.
Georgie berührte ihren Arm. „Oh Lizzie! Immer wenn ich denke, jetzt bist du auf dem Wege der Besserung, verabschiedest du dich aus unserer Welt und wirst so schrecklich traurig. Hör auf, an ihn zu denken!“
Lizzie lächelte sie an. Sie hatte gelernt zu lächeln, egal, wie heftig der Schmerz in ihrem Herzen und ihrer Seele auch sein mochte. „Ich bin nicht traurig.“ Das war gelogen, und sie wussten es beide. „Es ist Weihnachten, und ich liebe diese Zeit sehr. Heute kommen Mama und Papa, und ich freue mich so sehr darauf, sie zu sehen.“
Georgie warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Ich freue mich auch, aber ich habe auch etwas Angst. Seit jenem schrecklichen Tag auf Wicklow haben wir Papa nicht mehr gesehen.“
Lizzie wandte sich ab. Auch sie sorgte sich wegen der Begegnung mit ihrem Vater, und sie wollte jetzt ganz bestimmt nicht darüber sprechen.
Sie hatten ihren Eltern regelmäßig geschrieben, und weder Mama noch Papa hatten auch nur ein einziges Mal auf jenen entsetzlichen Tag angespielt, an dem Papa ihr erklärt hatte, sie sei nicht mehr seine Tochter. Stattdessen schien Mama nun sehr beliebt zu sein und verbrachte selten einen Abend allein in Raven Hall. Aus irgendeinem Grund lud die Countess sie weiterhin zu sich ein, wann immer sie auf Adare weilte. Papas Briefe klangen freundlich, und Lizzie hoffte, dass die ganze Angelegenheit in Vergessenheit geraten war.
Auch mit Anna wechselte sie Briefe. Annas Briefe klangen immer gleich. Sie schrieb heiter von den Einzelheiten ihres gesellschaftlichen Lebens in Derbyshire und ihrer Ehe. Natürlich bezog sie sich niemals auf die Vergangenheit. Das hätte Lizzie auch nicht gewollt. Sie war froh, dass Anna glücklich und verliebt war, im Frühling erwartete sie sogar ein Kind. Aber noch immer fiel es Lizzie schwer, ihre Briefe
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