Vergangene Narben
Cio würde mir sicherlich bescheid sagen, wenn ich in die falsche Richtung einschlug.
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Der Tau des Morgens lag noch auf dem Laub des Waldes, als die ersten Geräusche des Tages mich aus meinem kurzen Schlaf weckten. Ich blinzelte, sah durch die Verzweigung des Wurzelwerks ein Eichhörnchen, das auf der Suche nach seinen Wintervorräten durchs Unterholz huschte.
Vereinzelt fielen kleine Wassertropfen von den Blättern. Der Regen hatte aufgehört, doch seine Nachlässe waren überall um mich herum zu erkennen. Sie hingen in den Bäumen des Waldes, hatten sich auf das Laub am Boden niedergelassen, oder bildeten kleine Pfützen in Erdkuhlen.
In meinem Rücken lag ein warmer Körper, der mich in der Nacht vor dem beißenden Wind geschützt hatte. Viel hatte ich nicht schlafen können. Cio hatte uns gestern mit Shivas Wagen an den Rand der Wälder gebracht, der den Hof der Werwölfe in sich barg. Dabei war er so weit wie er es gewagt hatte, an Tenor herangefahren, und doch gleichzeitig Stunden entfernt geblieben. Es war Nachmittag gewesen, als wir aus dem Wagen geklettert waren, und in Wölfe verwandelt hatte, und so stundenlag in einem zügigen Tempo durch diese Wälder gelaufen waren. Selbst als die Sonne schon lange hinterm Horizont verschwunden war, strebten wir noch unserem Ziel entgehen, doch irgendwann waren wir beide so müde geworden, dass wir uns einen Schlafplatz suchen mussten. Eine Erdkuhle, in dem Wurzelwerk einer alten Eiche. Es war eng, und wir beide hatten gerade so reingepasst, doch keiner hatte sich beklagt.
Das Eichhörnchen bewegte sich auf uns zu. Also, entweder stand der Wind schlecht, oder es war dumm wie Brot. Welches Beutetier lief schon freiwillig auf zwei Wölfe zu, auch wenn die sich beide noch irgendwo im Delirium befanden?
Als es noch ein paar Schritte auf uns zugetrappelt kam, knurrte Cio leise. Das Eichhörnchen machte einen Satz in die Luft, wobei das Laub nur so mitflog, und dann rannte es eilig in den nächsten Baum.
Ich drehte den Kopf halb, und war doch etwas überrascht, Cio mit hellwachen Augen zu sehen.
„Ich dachte du schläfst noch.“
„Nein, ich bin schon eine ganze Weile wach.“
Er hob den Kopf, und gähnte herzhaft.
„Naja, so mehr oder weniger.“
„Warum hast du mich nicht geweckt?“
„Du scheinst den Schlaf gebraucht zu haben.“
Seine Nase stupste mir in die Wange.
„Und außerdem siehst du echt niedlich aus, wenn du im Schlaf vor dich hinsabberst.“
Dafür bekam er einen bösen Blick.
„Ich sabbere nicht, weder als Wolf, noch als Mensch.“
„Das behauptest du.“
Noch ein spielerichscher Stupser, dann stand er auf, und drängte sich an mir vorbei aus der Erdkuhle. Das Laub raschelte unter seinen Pfoten, als er genüsslich seine Glieder streckte, um auch die restlichen Fetzen des Schlafs loszuwerden. Dabei schimmerte sein dunkelbraunes Fell im morgendlichen Sonnenlicht, und gab ihm zusammen mit dem Muskelspiel etwas sehr Faszinierendes. Ein Geschöpf des Waldes in seiner natürlichen Umgebung. Mächtig, kraftvoll, wunderschön.
„Wenn du mich so anschaust, dann drängt sich mir doch glatt die Frage auf, was dir gerade so durch den Kopf geht.“
Ertappt wandte ich den Blick ab, und krabbelte eilig aus dem Loch. Dabei ignorierte ich sein Lachen, und konzentrierte mich ganz auf die Aufgabe, das trockene Laub aus meinem Fell zu schütteln.
„Wie lange brauchen wir noch zum Schloss?“
„Ah, ein Ablenkungsmanöver. Okay, ich spiele mit.“
Er ließ sich auf den hintern sinken, und sondierte die Umgebung bis ins kleinste Detail. Die Spitzen der entfernten Alpen, die aus unserem Blickwinkel kaum über die Baumwipfel ragten. Den Stand der Sonne, den Bewuchs um uns herum. Mit der Nase prüfte er die Gerüche in der Luft. Das alles lieferte ihm Hinweise darauf, wo genau wir uns befanden. Ohne ihn wäre ich hier hoffnungslos verloren gewesen.
Natürlich hatte ich mit meiner Tante schon viele Ausflüge in den Wald gemacht, aber es war immer ihr Verdienst gewesen, dass ich wieder nach Hause gefunden hatte. In dieser Hinsicht war es als halber Wolf eben doch ein Problem, die Tochter eines Vampirs zu sein.
Der Gedanke an meinen Vater tat zum ersten Mal seit Tagen nicht ganz so weh, denn bei meiner Wanderung durch den Wald war mir eines deutlich klar geworden. Sollten wir es wirklich schaffen, die Drachen zusammenzurufen, hätte Ayden eine Chance auf den Thron, und dann könnte er das tun, was seine Mutter mir versprochen hatte: Er könnte
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