Vergangene Narben
gesagt, mein Schloss …“
„Mein Kühlschrank. Ja, ja, schon klar.“
So viele Erinnerungen strömten plötzlich auf mich ein, und ich wusste ganz genau, dass meine Tante da ihre Hand mit im Spiel hatte. In schneller Abfolge blitzen sie vor meinem inneren Auge auf. Die erste Begegnung mit Fujo, das Frühstück mit Cheyenne, Madam Camille Laval mit ihrer „´ässlichen Brille“, Frederick zu Obach, Clover und Claire, Sadrija, Alina, der Stallmeister, das Streunerrudel von Gero, die Reise nach Italien, der erste Kuss mit Cio, und diese unglaubliche Nacht, die ich mit ihm verbracht hatte.
Ich hatte immer geglaubt außen vor zu sein, und alles nur durch eine Glasscheibe sehen zu können, doch in diesem Moment wurde mir klar, wie sehr ich mich die ganze Zeit geirrt hatte. Ich war schon immer Teil des ganzen gewesen, hatte es nur nie gesehen.
Eine unglaubliche Ruhe breitete sich in mir aus.
„Und jetzt glaube.“
Vor meinem inneren Auge materialisierte sich das Bild meiner Tante. Das geisterhafte Abbild meiner Mutter in einem langen Perlenverzierten Sari, nicht mehr als weißer Nebel. Ein Ebenbild, nur der Schatten einer Seele. Die Gestalt fast durchscheinend, bewegte Haar und Kleidung in einem unsichtbaren Windhauch, wallte wie Nebel. Es gab keine klaren Konturen, sie verliefen sich einfach, und waren doch deutlich zu erkennen.
Meine Finger glitten sanft über das Glas, als ich mich an die vielen Gespräche mit ihr erinnerte, oder wie gerne sie meinen Vater ärgerte. Ich hatte ihr Bildnis direkt vor meinen Augen, und glaubte in dem Moment, dass ich es schaffen könnte.
Meine Augen öffneten sich, und vor mir war die durchscheinende Gestalt Lalamikas. Doch sie war nur Wind, nicht fassbar, ein Schatten in der Luft, gezeichnet aus dem Glaube der Erinnerung. Und dann schien das Medaillon sie in sich aufzusagen. Langsam erst, und dann immer schneller. Ich sah sie lächeln.
„Du hast es geschafft, Donasie“,
sagte sie stolz, und nächsten Moment bildete sich unter der Kuppel der Medaillons ein blässlicher, weißer Nebel, der unruhig unter der Oberfläche herumwallte, als wehte da ein Lüftchen, das den Nebel durcheinander brachte.
„Lass mich raus!“
Die Welt begann wie ein Gummizug wieder in die Realität zurück zu schnappen. Die Geräusche des Kampfes drangen an meine Ohren. Cio hatte den Leopaden am Schwanz gepackt, und zerrte wie ein besessener daran. Der gelockerte Verband war noch halb um sein Bein gewickelt. Mein Vater schickte einen der Therianthropen mit einem Fausthieb auf den Boden, wurde im gleichen Moment aber rücklings von einem anderen angegriffen. Fujo kauerte mit verweinten Augen am Rand des Geschehens, und beobachtete ihren Vater, der meine Mutter mit dem Rücken gegen einen Baum drückte, und das Messer an ihrer Kehle hielt.
„Donasie!“
Hastig begann ich mit den Fingern an dem Öffnungsmechanismus herumzufummeln, doch er klemmte wieder.
„Tu das nicht, Amir“, flehte meine Mutter. „Bitte, tu das nicht.“
Meine verschwitzen Hände rutschten ab, das Medaillon fiel zu Boden, und ich musste es hastig wieder aufklauben. Warum hatten sie diesen blöden Mechanismus nicht schon längst reparieren lassen? War ja nicht so, dass er erst seit gestern kaputt war.
„Wir lassen dich kein weiteres Mal entkommen, Ater Geminus. Du willst nicht in die Heimat? Du trittst unsere Traditionen mit Füßen? Dann wirst du eben hier sterben.“
Mit einem kaum hörbaren Klick sprang das Medaillon endlich auf.
„Lass von ihr ab!“,
schrie Tanta Lalamika. Zeitgleich schoss der weißliche Nebel heraus, direkt zwischen Amir und meiner Mutter. Ihre Konturen formten sich, verfestigten sich. Die Gestalt verschwamm an der Stelle, drohte sich aufzulösen, nur um sich wieder zu kräftigen.
Amir machte einen erschrockenen Schritt zurück, stolperte, und landete auf dem Hosenboden. Dabei verlor er sein Messer. „Lumon Geminus!“, stieß er ungläubig aus, und zeigte auf die Gestalt meiner Tante. „Lumon Geminus! Lumon Geminus!“
Mit seinen Rufen machte er auch die anderen Therianthropen auf sich aufmerksam. Einer stöhnte auf, als mein Vater die Gunst der Stunde nutzte, und dem Gegner einen Schwinger in den Magen versetzte.
„Hör auf“,
verlangte meine Tante von meinem Vater.
„Es reicht, Raphael, genug.“
Ihre Stimme war nicht wie die der Lebenden. Sie bewegte ihren Mund nicht, und doch konnten wir sie alle hören. Es war, als würde die Stimme in meinem Kopf zu existieren, gleichzeitig aber
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