Vergangene Zukunft
demütigt uns zutiefst, Ihnen diesen Vorschlag machen zu müssen.«
»Warten Sie. Noch will ich Ihrem Planetoiden nicht den Rücken kehren. Großer Gott, diese Angelegenheit ist von größtem beruflichen Interesse für mich. Könnte ich mit Ragusnik sprechen?«
»Auf keinen Fall«, sagte Blei erschrocken.
»Aber es wäre sehr wichtig für mich, diese Situation genau verstehen zu lernen. Die gesellschaftlichen Bedingungen hier sind einzigartig und treten in dieser Form sonst nirgendwo in der Galaxis auf. Im Namen der Wissenschaft –«
»Würde es Ihnen genügen, das Gespräch mittels Bildempfang zu führen?«
»Ja.«
»Ich werde die Regierung fragen«, murmelte Blei.
Sie saßen unbehaglich neben Lamorak. Ihre sonst so strengen, würdigen Gesichter waren angstvoll verzerrt. Blei, der in ihrer Mitte saß, mied sorgfältig den Blick des Erdenmanns.
Der oberste Regierungsrat, ein grauhaariger Mann mit faltigem Gesicht und magerem Hals, sagte leise: »Wenn Sie ihn irgendwie aus Ihrer eigenen innersten Überzeugung heraus überreden könnten, Sir, so würden wir das sehr begrüßen. Aber Sie dürfen keinesfalls andeuten, daß wir auch nur in der geringsten Beziehung gewillt sind, seinen Forderungen nachzugeben.«
Ein gazeartiger Vorhang senkte sich zwischen Blei und die Mitglieder des Regierungsrats. Er konnte die einzelnen Regierungsräte noch erkennen. Jetzt wandte er sich mit einer entschlossenen Bewegung dem Empfangsgerät zu, das zu leuchten begann.
Ein Kopf erschien in natürlichen Farben und sehr realistisch. Es war ein großer, dunkler Kopf mit einem massiven, stoppelbärtigen Kinn. Dicke rote Lippen bildeten eine feste, horizontale Linie.
Das Bild fragte mißtrauisch: »Wer sind Sie?«
»Ich heiße Steven Lamorak. Ich komme von der Erde.«
»Ein Fremder?«
»Ganz recht. Ich bin zu Besuch auf Elsevere. Sind Sie Ragusnik?«
»Igor Ragusnik, zu Diensten«, sagte das Bild spöttisch. »Aber ich werde niemandem zu Diensten sein, solange meine Familie und ich nicht wie Menschen behandelt werden.«
»Erkennen Sie nicht die Gefahr, in der sich Elsevere befindet? Es ist möglich, daß eine Epidemie ausbricht.«
»Die Situation kann sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden normalisieren, wenn sie mir erlauben, wie jeder andere Mensch zu leben. Es liegt in ihrer Hand.«
»Sie scheinen ein gebildeter Mann zu sein, Ragusnik.«
»So?«
»Es wurde mir gesagt, daß Ihnen jeder materielle Komfort zur Verfügung steht. Sie wohnen, essen und kleiden sich besser als jeder andere Mensch auf Elsevere. Ihre Kinder genießen die beste Erziehung.«
»Sicher. Das habe ich aber nur einem gut funktionierenden Mechanismus zu verdanken. Mutterlose weibliche Babys werden zu uns gesandt. Sie wachsen bei uns auf, und dann heiraten sie die männlichen Mitglieder meiner Familie. Aber die Mädchen sterben jung. Aus Einsamkeit. Warum?« Plötzliche Leidenschaft schwang in seiner Stimme mit. »Wir müssen isoliert leben, als wären wir Ungeheuer. Warum? Warum darf kein Mensch in unsere Nähe? Sind wir nicht genauso Menschen wie die anderen? Haben wir nicht dieselben Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle? Haben wir nicht eine ehrenhafte und nützliche Funktion innerhalb der Gesellschaft?«
Gequälte Seufzer ertönten hinter Lamorak. Ragusnik hörte sie und erhob seine Stimme.
»Ich sehe die Mitglieder des Regierungsrats hinter Ihnen sitzen. Antworten Sie mir! Haben wir nicht eine ehrenhafte und nützliche Funktion? Es sind Ihre Exkremente, die wir zu Nahrungsmitteln für Sie verwandeln. Ist der Mann, der den Schmutz veredelt, schlechter als der, der ihn produziert? Hört, meine Herren Regierungsräte, ich werde nicht nachgeben. Soll ganz Elsevere an der Krankheit zugrunde gehen, samt mir und meinem Sohn, wenn es notwendig sein sollte – aber ich werde nicht nachgeben. Es ist für meine Familie besser, an der Krankheit zu sterben, als ihr jetziges Leben weiterzuführen.«
»Sie fuhren dieses Leben doch seit Ihrer Geburt, nicht wahr?« unterbrach ihn Lamorak.
»Und wenn das so wäre?«
»Da haben Sie sich doch sicher daran gewöhnt.«
»Niemals. Vielleicht habe ich resigniert. Mein Vater hat resigniert, und ich auch, eine Zeitlang. Aber dann habe ich meinen Sohn heranwachsen sehen, meinen einzigen Sohn. Nie hatte er einen Spielgefährten. Mein Bruder und ich, wir konnten wenigstens miteinander spielen. Aber mein Sohn wird niemals einen Freund haben, und deshalb bin ich nicht gewillt, noch länger zu resignieren. Ich bin
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