Vergangene Zukunft
gewisse Starre mit sich.«
»Sicher«, sagte Blei rasch, »aber ebenso eine gewisse Selbstsicherheit. Wir haben strenge Heiratsgesetze, und auch die Erbfolge jedes einzelnen besetzten Platzes ist genau geregelt. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind – alle wissen, wohin sie gehören, sie akzeptieren ihren Platz in der Gesellschaft und werden auch von ihr akzeptiert. Wir kennen keine Neurosen oder Geisteskrankheiten.«
»Und es gibt keine Außenseiter?«
Blei öffnete den Mund zu einem raschen »Nein«, schloß ihn aber sofort wieder fest, noch bevor das Wort über seine Lippen gekommen war. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. Nach einer kleinen Pause sagte er: »Ich werde die Tour für Sie arrangieren, Doktor. In der Zwischenzeit werden Sie sich vielleicht etwas frischmachen und schlafen wollen.«
Sie erhoben sich und verließen gemeinsam den Raum, wobei Blei dem Erdenmann höflich den Vortritt ließ.
Es bedrückte Lamorak, daß sein Gespräch mit Blei eine so unangenehme Wendung genommen hatte. Die Zeitung verstärkte dieses beklemmende Gefühl noch. Er las sie sorgfältig, bevor er zu Bett ging. Zuerst brachte er ihr nur ein rein wissenschaftliches Interesse entgegen. Es war eine achtseitige kleinformatige Zeitung aus synthetischem Papier. Ein Viertel ihres Umfangs war den sogenannten »Personellen Nachrichten« gewidmet. Darin las man von Geburtstagen, Hochzeiten, Todesfällen, Beförderungen, von neuem bewohnbaren Volumen (nicht Fläche! Man betrachtete es dreidimensional!). Der übrige Teil der Zeitung beinhaltete wissenschaftliche Essays, Erziehungsmaterial und Prosa. Einen Nachrichtenteil, der Neuigkeiten umfaßte, wie Lamorak sie von der Erde her gewohnt war, gab es nicht.
Nur ein Artikel entsprach in etwa einer Zeitungsnachricht, wie man sie auf der Erde kannte. Er war in seiner Unvollständigkeit erschreckend.
Unter der kleinen Schlagzeile FORDERUNGEN NICHT GEÄNDERT las Lamorak: Seine gestrige Haltung hat sich nicht geändert. Nach einem zweiten Gespräch verkündete der oberste Regierungsrat, daß seine Forderungen völlig unvernünftig geblieben sind und unter keinen Umständen gebilligt werden können.
Darunter stand in Parenthese und in einem anderen Schriftgrad zu lesen: Der Herausgeber dieser Zeitung ist ebenfalls der Meinung, daß Elsevere nicht nach seiner Pfeife tanzen kann und will, komme, was da wolle.
Lamorak las den Artikel noch dreimal. Seine Haltung. Seine Forderungen. Seine Pfeife.
Wessen?
Er schlief in dieser Nacht sehr schlecht.
In den folgenden Tagen hatte er keine Zeit, noch irgendwelche Zeitungen zu lesen. Aber in Gedanken beschäftigte er sich doch immer wieder mit jenem sonderbaren Artikel.
Blei, der während der Tour als sein Führer und Begleiter war, benahm sich immer zurückhaltender.
Am dritten Tag (genau nach dem Muster des vierundzwanzigstündigen Erdentages festgesetzt) blieb Blei stehen und sagte: »Diese Ebene ist zur Gänze der chemischen Industrie gewidmet. Diese Abteilung ist nicht wichtig …«
Aber er wandte sich eine Spur zu schnell ab, und Lamorak hielt ihn am Arm zurück.
»Was wird in dieser Abteilung produziert?«
»Kunstdünger. Gewisse Organismen«, sagte Blei steif.
Lamorak blickte sich um. Aus welchem Grund war Blei so eifrig darauf bedacht, möglichst schnell von hier zu verschwinden? Seine Augen glitten über die dicht beieinander stehenden Steinbauten, die sich zwischen die einzelnen Ebenen quetschten.
»Sind das nicht Privatwohnungen?«
Blei blickte nicht in die Richtung, in die Lamorak deutete.
»Das ist das größte Wohngebiet, das ich bis jetzt gesehen habe«, sagte Lamorak. »Warum befindet es sich auf Industrieboden?« Das allein war bemerkenswert. Er hatte bereits festgestellt, daß die einzelnen Ebenen in Elsevere streng in Wohngebiete, Ackerland und Industriegebiete geteilt waren.
Er drehte sich um und rief: »Regierungsrat Blei!«
Der Regierungsrat ging davon, und Lamorak folgte ihm mit hastigen Schritten.
»Ist hier irgend etwas nicht in Ordnung?«
»Ich bin unhöflich, ich weiß«, murmelte Blei. »Es tut mir leid. Gewisse Angelegenheiten, die mir Sorge bereiten …« Er ging immer schneller.
»Geht es um seine Forderungen?«
Blei blieb abrupt stehen.
»Was wissen Sie denn davon?«
»Nicht mehr, als ich gesagt habe. Ich habe davon in der Zeitung gelesen.«
Blei murmelte etwas vor sich hin.
»Ragusnik?« fragte Lamorak. »Was ist das?«
Blei stieß einen schweren Seufzer aus.
»Ich glaube, Sie
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