Vergebung
darstellte.
Aber das ging ihn nichts an. Seine Arbeit bestand darin, das Leben seiner Patientin zu retten, ganz gleich ob sie eine dreifache Mörderin oder eine Nobelpreisträgerin war. Oder sogar beides.
Danach brach das effektive Chaos aus, das eine Notaufnahme prägt. Das Personal von Jonassons Schicht machte sich routiniert ans Werk. Die Reste von Lisbeth Salanders Kleidung wurden aufgeschnitten. Eine Schwester verkündete den Blutdruck - 100 zu 70 -, während er selbst der Patientin das Stethoskop an die Brust legte und einen verhältnismäßig regelmäßigen Herzschlag und eine nicht ganz so regelmäßige Atmung feststellte.
Dr. Jonasson zögerte nicht, Lisbeth Salanders Zustand als kritisch einzustufen. Die Verletzungen an Schulter und Hüfte mussten warten. Fürs Erste konnte er einfach das Klebeband drauflassen, das jemand geistesgegenwärtig angebracht hatte. Das Wichtigste war der Kopf. Dr. Jonasson ordnete sogleich eine Computertomografie an.
Anders Jonasson war blond und blauäugig und kam ursprünglich aus Umeå. Seit zwanzig Jahren arbeitete er abwechselnd als Forscher, Pathologe und Notarzt im Sahlgrenskaund im Östra-Krankenhaus. Er hatte eine Eigenheit, die seine Kollegen verblüffte und das Personal stolz machte, mit ihm zusammenzuarbeiten: Er hatte die Einstellung, dass während seiner Schicht kein Patient sterben durfte, und wundersamerweise war es ihm bis jetzt gelungen, den Zähler tatsächlich auf null zu halten. Ein paar von seinen Patienten waren freilich gestorben, aber erst während der Folgebehandlung oder aus ganz anderen Ursachen.
Außerdem vertrat Jonasson eine etwas unorthodoxe Berufsauffassung. Er fand, dass Ärzte manchmal dazu neigten, unbegründete Schlüsse zu ziehen, und daher viel zu schnell aufgaben - sie verbrachten einfach zu viel Zeit damit, ganz exakt herauszufinden, was dem Patienten fehlte, um ihn korrekt behandeln zu können. Sicherlich stand es so im Lehrbuch; das Problem war nur, dass der Patient Gefahr lief zu sterben, während der Arzt noch überlegte. Schlimmstenfalls würde der Arzt zu dem Schluss kommen, dass der Fall hoffnungslos war, und die Behandlung abbrechen.
Anders Jonasson hatte jedoch noch nie einen Patienten mit einer Kugel im Schädel vor sich gehabt. Hier brauchte man wahrscheinlich einen Neurochirurgen. Er fühlte sich unzulänglich, aber dann ging ihm auf, dass er vielleicht mehr Glück hatte, als er verdiente. Bevor er sich wusch und die OP-Kleidung anzog, rief er Hanna Nicander.
»Es gibt da einen amerikanischen Professor namens Frank Ellis, der im Karolinska-Krankenhaus in Stockholm arbeitet, im Moment aber in Göteborg ist. Er ist ein bekannter Hirnforscher und außerdem ein guter Freund von mir. Er wohnt im Hotel Radisson auf der Avenyn. Können Sie mir bitte die Telefonnummer raussuchen?«
Während Anders Jonasson immer noch auf die Röntgenbilder wartete, kam Hanna Nicander mit der Telefonnummer des Hotels zurück. Jonasson warf einen Blick auf die Uhr - 1 Uhr 42 - und griff zum Hörer. Der Nachtportier zeigte sich äußerst unwillig, um diese Zeit überhaupt einen Anruf durchzustellen, und Doktor Jonasson musste ein paar äußerst scharfe Worte über die Patientin in Lebensgefahr fallen lassen, bevor er verbunden wurde.
»Guten Morgen, Frank«, sagte Anders Jonasson, als der Hörer schließlich abgenommen wurde. »Hier ist Anders. Ich habe gehört, dass du grade in Göteborg bist. Hast du Lust, ins Sahlgrenska rüberzukommen und mir bei einer Gehirnoperation zu assistieren?«
»Are you bullshitting me?« , hörte man eine zweifelnde Stimme am anderen Ende der Leitung. Obwohl Frank Ellis seit vielen Jahren in Schweden wohnte und fließend Schwedisch sprach - wenn auch mit amerikanischem Akzent -, blieb Englisch seine Leib- und Magensprache. Anders Jonasson sprach Schwedisch, und Ellis antwortete ihm auf Englisch.
»Frank, tut mir leid, dass ich deinen Vortrag verpasst habe, aber ich dachte, du könntest mir Privatstunden geben. Ich habe hier eine junge Frau, die in den Kopf geschossen wurde. Einschussloch direkt über dem linken Ohr. Ich würde dich nicht anrufen, wenn ich nicht eine zweite Meinung bräuchte. Und ich kann mir kaum eine geeignetere Person dafür vorstellen als dich.«
»Meinst du das im Ernst?«, erkundigte sich Frank Ellis.
»Es handelt sich um ein 25-jähriges Mädchen.«
»Und sie ist in den Kopf geschossen worden?«
»Einschussloch, keine Austrittswunde.«
»Aber sie lebt noch?«
»Puls schwach, aber
Weitere Kostenlose Bücher