Vergebung
schnell, dass man ihn mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme fuhr. Als er zu mir gebracht wurde, war er schon bewusstlos. Er hatte eine kleine Beule und eine minimale Blutung. Aber er wachte nicht wieder auf, und nach neun Tagen auf der Intensivstation starb er. Bis heute weiß ich nicht, warum er gestorben ist. Im Obduktionsprotokoll haben wir geschrieben: ›Gehirnblutung infolge eines Unfalls‹, aber mit dieser Diagnose war keiner von uns richtig zufrieden. Die Blutung an sich war so unbedeutend, dass sie überhaupt keine Auswirkung hätte haben dürfen. Trotzdem stellten Leber, Nieren, Herz und Lungen nach und nach ihre Tätigkeit ein. Je älter ich werde, desto mehr kommt mir das Ganze wie eine Art Roulette vor. Persönlich glaube ich ja, dass wir niemals so richtig ergründen werden, wie das Gehirn genau funktioniert. Wie willst du vorgehen?«
Er klopfte mit einem Stift auf das Röntgenbild.
»Ich hatte gehofft, dass du mir das sagen würdest.«
»Erzähl erst mal, wie du die Sache einschätzt.«
»Tja, erst mal scheint das ja eine Kugel kleineren Kalibers zu sein. Sie ist in der Schläfe eingetreten und ungefähr vier Zentimeter tief ins Gehirn eingedrungen. Sie liegt am lateralen Ventrikel, und dort haben wir auch die Blutung.«
»Maßnahmen?«
»Um deine Terminologie zu verwenden - eine Zange besorgen und die Kugel auf demselben Weg rausholen, wie sie reingekommen ist.«
»Großartiger Vorschlag. Aber ich würde lieber die dünnste Pinzette benutzen, die du hast.«
»So einfach ist das?«
»Was können wir in diesem Fall sonst schon tun? Wir können die Kugel da lassen, wo sie ist, und vielleicht wird sie damit hundert Jahre alt, aber das bedeutet auch ein gewisses Risiko. Sie könnte Epilepsie, Migräne, allen möglichen Unfug bekommen. Und man will ihr ja auch nicht gerne den Schädel aufbohren und sie operieren, ein Jahr nachdem die Wunde verheilt ist. Die Kugel liegt ein Stück von den großen Blutgefäßen entfernt. In diesem Fall würde ich einfach empfehlen, dass du sie entfernst, aber …«
»Aber was?«
»Die Kugel macht mir nicht so viel Kummer. Das ist das Faszinierende an Hirnverletzungen - wenn sie es überlebt hat, dass sie eine Kugel ins Hirn bekommt, ist das ein Zeichen dafür, dass sie es auch überlebt, wenn man diese Kugel wieder herausholt. Das Problem ist eher das hier.« Er zeigte auf den Schirm. »Rund um die Einschusswunde hast du jede Menge Knochensplitter. Ich kann mindestens ein Dutzend Fragmente sehen, die mehrere Millimeter lang sind. Ein paar davon haben sich in die Hirnmasse gebohrt. Und daran wird sie sterben, wenn du nicht vorsichtig bist.«
»Dieser Bereich des Gehirns wird mit Zahlen und numerischen Fähigkeiten in Verbindung gebracht.«
Ellis zuckte die Achseln.
»Ich habe keine Ahnung, wozu genau die grauen Zellen an dieser Stelle gut sind. Du kannst nur dein Bestes tun. Du operierst sie. Ich schau dir dabei über die Schulter. Kann ich mir irgendwo OP-Kleidung leihen und mir die Hände waschen?«
Mikael Blomkvist warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es kurz nach drei Uhr morgens war. Er trug Handschellen. Für eine Sekunde schloss er die Augen. Er war todmüde, aber das Adrenalin hielt ihn wach. Als er die Augen wieder aufschlug, musterte er wütend den sichtlich schockierten Kommissar Thomas Paulsson, der seinen Blick erwiderte. Sie saßen am Küchentisch eines weißen Bauernhofs, an einem Ort namens Gosseberga in der Nähe von Nossebro, von dem Mikael vor zwölf Stunden zum ersten Mal in seinem Leben gehört hatte.
Die Katastrophe war bereits eingetreten.
»Idiot«, sagte Mikael.
»Hören Sie mal zu …«
»Idiot«, wiederholte Mikael. »Verdammt noch mal, ich hab Ihnen gesagt, dass er höchst gefährlich ist. Ich hab Ihnen gesagt, dass Sie mit ihm umgehen müssen wie mit einer entsicherten Handgranate. Er hat mindestens drei Menschen umgebracht, ist gebaut wie ein Panzer und kann mit bloßen Händen töten. Und Sie schicken zwei Bürohengste, die ihn in Gewahrsam nehmen sollen, als hätte er am Wochenende einen über den Durst getrunken.«
Mikael schloss wieder die Augen. Er fragte sich, was in dieser Nacht noch so alles schiefgehen würde.
Er hatte Lisbeth Salander kurz nach Mitternacht schwer verletzt aufgefunden. Er hatte die Polizei alarmiert und den Rettungsdienst überredet, sofort einen Hubschrauber zu schicken, um Lisbeth ins Sahlgrenska-Krankenhaus zu bringen.
Dennoch hatte es über eine Stunde gedauert, bis der
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