Vergebung
sich auf die Unterlippe.
Lisbeth hatte weder vor Menschen noch vor Dingen Angst. Sie wusste, dass ihr dazu einfach die erforderliche Fantasie fehlte - ein Beweis, dass mit ihrem Gehirn wirklich etwas nicht stimmte.
Ronald Niedermann hasste sie, was sie mit einem ebenso unversöhnlichen Hass erwiderte. Er gehörte in die Reihe von Männern wie Magge Lundin, Martin Vanger, Alexander Zalatschenko und einem Dutzend anderer Schweine, die Lisbeth zufolge kein Recht hatten, unter den Lebenden zu weilen. Wenn sie sie alle auf eine unbewohnte Insel hätte verfrachten und eine Atombombe darauf werfen können, sie hätte es mit dem größten Vergnügen getan.
Aber Mord? War es das wert? Was würde mit ihr geschehen, wenn sie ihn jetzt tötete? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sie unerkannnt davonkam? Zu welchem Opfer war sie bereit für die Befriedigung, die Nagelpistole ein letztes Mal abzufeuern?
Ich kann mich auf mein Recht auf Notwehr berufen … nein, wohl kaum, wenn er mit den Füßen am Dielenboden festgenagelt war.
Plötzlich musste sie an Harriet Vanger denken, die auch von ihrem Vater und ihrem Bruder gequält worden war. Sie erinnerte sich an den Wortwechsel, den sie mit Mikael gehabt hatte, als sie Harriet Vanger mit den schärfsten Worten verurteilt hatte. Es war Harriet Vangers Schuld, dass ihr Bruder Martin Jahr um Jahr weitermorden konnte.
»Was hättest du denn gemacht?« , hatte Mikael sie gefragt.
»Ich hätte das Schwein umgebracht« , hatte sie geantwortet - mit einer Überzeugung, die aus der tiefsten Tiefe ihrer kalten Seele kam.
Und jetzt befand sie sich in genau derselben Situation wie Harriet Vanger damals. Wie viele Frauen würde Ronald Niedermann noch töten, wenn sie ihn jetzt laufen ließ? Sie war eine mündige Bürgerin und voll für ihre Taten verantwortlich. Wie viele Jahre ihres Lebens wollte sie opfern? Wie viele Jahre hatte Harriet Vanger opfern wollen?
Dann wurde die Nagelpistole so schwer in ihrer Hand, dass sie sie nicht mal mehr mit zwei Händen gegen seinen Nacken drücken konnte.
Sie ließ die Waffe sinken und spürte, wie sie wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte. Wie sie bemerkte, murmelte Niedermann irgendetwas Unzusammenhängendes vor sich hin. Er sprach Deutsch. Faselte etwas von einem Teufel, der gekommen war, um ihn zu holen.
Auf einmal wurde ihr bewusst, dass er nicht mit ihr redete. Hinten im Zimmer schien er noch jemand anders zu sehen. Sie drehte den Kopf und folgte seinem Blick. Doch da war nichts. Ihre Nackenhaare stellten sich auf.
Sie machte auf dem Absatz kehrt, holte das Brecheisen, ging in die Halle hinaus und suchte nach ihrer Umhängetasche. Als sie sich bückte, um die Tasche aufzuheben, sah sie das Bajonett auf dem Boden liegen. Sie hatte immer noch die Handschuhe an und hob die Waffe auf.
Nach kurzem Zögern legte sie die Waffe deutlich sichtbar in den Mittelgang zwischen den Versandkisten. Dann bearbeitete sie das Vorhängeschloss drei Minuten lang mit dem Brecheisen, bis sie die Tür geöffnet hatte.
In ihrem Auto blieb sie erst einmal sitzen und überlegte eine Weile. Schließlich klappte sie ihr Handy auf. Nach zwei Minuten hatte sie die Telefonnummer des Klubhauses des Svavelsjö MC herausgefunden.
»Ja?«, hörte sie eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Nieminen«, sagte sie.
»Moment.«
Sie wartete drei Minuten, bis Sonny Nieminen, amtierender Vorsitzender des Svavelsjö MC, ans Telefon kam.
»Wer ist da?«
»Das kann Ihnen völlig egal sein«, antwortete Lisbeth so leise, dass er die Worte kaum verstand. Er konnte nicht einmal erkennen, ob er mit einem Mann oder einer Frau sprach.
»Aha. Und was wollen Sie?«
»Sie wollen gerne wissen, wo sich Ronald Niedermann aufhält.«
»Will ich das?«
»Reden Sie keinen Scheiß. Wollen Sie wissen, wo er ist, oder nicht?«
»Ich höre.«
Sie gab ihm eine Wegbeschreibung zu der stillgelegten Ziegelei bei Norrtälje. Und erklärte, Niedermann würde noch dort sein, wenn er sich ein bisschen beeilte.
Dann schaltete sie ihr Handy aus, ließ das Auto an und fuhr zur OK-Tankstelle auf der anderen Straßenseite. Sie parkte so, dass sie die Ziegelei im Blick hatte.
Sie musste über zwei Stunden warten. Um kurz vor halb zwei bemerkte sie einen Lieferwagen, der langsam an ihr vorbeifuhr. Er blieb auf einem Parkplatz stehen, wartete fünf Minuten, wendete dann und bog in die Straße ein, die zur Ziegelei führte. Es begann schon zu dämmern.
Lisbeth machte das Handschuhfach
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