Vergeltung
gekannt. Das Motiv muss zutiefst persönlich gewesen sein, darauf
lassen die Verletzungen im Gesicht schließen.«
Rebekka schloss die Augen, atmete bis tief in die Lungen und
versuchte, den Tatort mit allen Sinnen in sich aufzunehmen. Alle irrelevanten
Geräusche filterte sie heraus: die Stimmen, das Knistern von Papier und
Plastik, das Trampeln von Stiefeln. Der kühle Wind fuhr ihr ins Haar. Sie
zerbröselte ein wenig weiche, feuchte Erde zwischen den Fingern, schnupperte,
der Duft von Humus breitete sich in ihrem Körper aus und sie nahm langsam ein
Gefühl wilder, unbezähmbarer Wut wahr, gefolgt von abgrundtiefem Entsetzen. Sie
versuchte, gegen das Gefühl von Panik anzukämpfen, nahm die Eindrücke des
Tatorts in sich auf und öffnete wieder die Augen. Sie spürte Michaels Blick, er
hatte nichts gesagt, sie nur ruhig angesehen.
»Sie sind ganz blass geworden«, sagte er, und sie erwiderte gelassen
seinen Blick.
»Ich musste erst einmal den Tatort in mich aufnehmen, falls Sie
verstehen, was ich meine. Man muss einen Tatort immer mit dem Körper erspüren,
seiner Geschichte lauschen. Es ist wichtig, ihn richtig zu lesen.«
Er sah sie ernst an.
»Und was sagt er Ihnen?«
»Wie ich schon erwähnt habe, besteht kein Zweifel, dass das Motiv
persönlich ist. Mein Gefühl sagt mir ganz eindeutig, dass es hier um sehr viel
mehr als nur um Liebeskummer geht. Sie ist dort bei der Schranke
niedergeschlagen worden, wo Sie den großen Ast gefunden haben, der den Weg
versperrt. Das bestärkt ganz klar meinen Verdacht. Außerdem stört mich irgendetwas
an der Art, wie sie daliegt. Das wirkt so gestellt. Hat der Rechtsmediziner
Spermaspuren gefunden?«
Michael schüttelte den Kopf.
»Nicht soweit er das mit dem bloßen Auge feststellen konnte.«
Sie machte eine ausladende Armbewegung und fuhr fort: »Es ist nicht
übertrieben, von einem Overkill zu sprechen. Sie wurde niedergeschlagen, es wurde
mit einem Messer auf sie eingestochen und anschließend ist sie erwürgt worden.
So etwas passiert eigentlich nur, wenn der Täter eine Verbindung zu seinem
Opfer hat, was meine Theorie unterstützt. Wir haben es mit einer besonders
gefährlichen Person zu tun. Anna Gudbergsen sollte auf jeden Fall sterben. Fahren wir zurück ins Präsidium. Ich würde jetzt gerne
das ganze Ermittlerteam kennenlernen.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, stand auf und ging zurück zum
Parkplatz.
—
»Haben alle ihre Pizzen? –
Dann fangen wir an.«
Teit Jørgensen, der sich an
schwarzen Kaffee hielt, blickte über die Gruppe von Ermittlern, die in dem Besprechungsraum
versammelt war. In der Ecke rollte Bettina Pallander lautstark ein Whiteboard
heran, in der Mitte hing ein großes Farbfoto von Anna Gudbergsen mit einer
Studentenmütze. Sie lächelte keck auf sie herab. Um das Foto waren Bilder von
ihrer Leiche gruppiert.
»Zuallererst möchte ich Rebekka Holm von der mobilen Spezialeinheit
willkommen heißen. Sie hat täglich mit Gewaltverbrechen zu tun und in mehreren
schwierigen Mordfällen ermittelt, weshalb sie hier ist. Der Führungsstab und
ich haben das gemeinsam beschlossen.«
Teit Jørgensen sah Rebekka an, und sie nickte ihm höflich zu. Er
räusperte sich laut. »Sollte sie jemandem von euch bekannt vorkommen, liegt das
daran, dass sie hier in der Stadt geboren und aufgewachsen ist, kein Fehler,
wenn ihr mich fragt.«
Ein leises Kichern war zu hören, und Rebekka hatte das Gefühl, dass
die Gruppe sie aufmerksam ansah, sie jedoch niemand wiederzuerkennen schien.
Teit Jørgensen legte das Gesicht in ernste Falten.
»Wie ihr alle wisst, haben wir es mit einem äußerst brutalen Mord zu
tun. Die zweiundzwanzigjährige Anna Gudbergsen wurde heute Morgen zwischen zwei
und vier Uhr im westlichen Teil des Fruerwalds ermordet, nur wenige Meter vom
Haus ihrer Eltern im Retortvej entfernt. Sie wurde um 9.31 Uhr von einer
älteren Frau gefunden, die ihren Hund ausgeführt hat. Aus dem vorläufigen
gerichtsmedizinischen Befund geht hervor, dass sie mit einem stumpfen Gegenstand
zwei kräftige Schläge auf den Hinterkopf bekommen hat, vermutlich mit einer
Eisenstange, bei der es sich um einen Golfschläger handeln kann, und dass
jemand viele Male mit einem Messer auf Körper und Gesicht eingestochen hat,
vermutlich mit einem fünfzehn bis zwanzig Zentimeter langen Küchenmesser.
Darüber hinaus wurde sie erwürgt. Die Tasche mit Geldbörse, Schlüsseln und Handy
wurde nicht angerührt.
Ihr Kleid ist durch die Messerstiche zerrissen,
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