Vergeltung
sie schon einmal über den
Fall.«
Michael wartete die Antwort nicht ab und nahm deshalb auch Bettinas
ärgerlichen Gesichtsausdruck nicht wahr. Rebekka folgte ihm schnell den Gang
hinunter. Sie spürte Bettina Pallanders Augen in ihrem Rücken. Sie stachen wie
Nadeln durch ihre Haut.
—
Eine Stunde später war
Rebekka über den vorläufigen Stand der Ermittlungen informiert. Sie hatte alle
Berichte gelesen sowie den rechtsmedizinischen Befund und die Verhörprotokolle
der kurzen Befragungen der Freundinnen, des Barkeepers, der Eltern von Anna Gudbergsen
und der Hundebesitzerin Agnes Dam.
Jetzt sah sie sich den Stapel Fotos
vom Tatort genauer an.
»Ziemlich brutal, nicht?«
In dem Moment, in dem ihm der Satz über die Lippen kam, ärgerte er
sich. Sie dürfte unzählige solcher Fälle gesehen haben. Rebekka ging auf seinen
Kommentar nicht ein, sondern studierte weiter die Fotos und bemerkte
glücklicherweise nicht, dass er rot geworden war. Michael führte sein Verhalten
darauf zurück, dass ihn das Ganze zum einen nicht unberührt ließ und zum
anderen seine neue Kollegin und jetzige Vorgesetzte eine große, schlanke und
sehr schöne Frau mit glatten, dunkelbraunen schulterlangen Haaren war, die bei
der mobilen Spezialeinheit Karriere gemacht hatte und außerdem acht Jahre jünger
war als er.
Rebekka machte sich Notizen zu den vielen Fotos. Sie fühlte sich
fast ein wenig aufgekratzt. Der starke Kaffee und die viele Schokolade hatten
Wunder gewirkt, und im Moment konnte sie gut darüber hinwegsehen, dass sie in
ihrer Heimatstadt war.
»Als Erstes möchte ich mir gerne den Tatort ansehen und anschließend
sollte sich das ganze Team zu einem Briefing zusammenfinden, um die wichtigsten
Aufgaben zu verteilen.«
Sie packte ihre Tasche und selbst das Schließen des Schlosses klang
effektiv, wie Michael fand.
—
Das rot-weiß gestreifte
Absperrband flatterte leicht im Wind, als Rebekka und Michael im Fruerwald
eintrafen. Der kleine Parkplatz vor dem Wald war vollgeparkt mit Polizeiautos
und Fernsehübertragungswagen. Auch die Printmedien waren zahlreich erschienen,
um der Polizei Informationen zu entlocken. Ein paar Anwohner machten einen
langen Hals, doch den Zugang zum Wald versperrte ein großer dunkelblauer
Polizeibus.
Rebekka und Michael wurden an der
Absperrung vorbei in den Wald gewunken. Die Sonne stand tief über dem Fjord und
tauchte die dunklen Bäume in orangerotes Licht. Ein Gebiet von ungefähr fünfzig
mal hundert Metern war in Felder aufgeteilt, in denen eine größere Anzahl von
Kriminaltechnikern in weißen Schutzanzügen und mit Mundschutz herumliefen und
jeden Zentimeter methodisch durchkämmten und fotografierten. Ein
schwarzhaariger Mann mittleren Alters mit scharfen Zügen, stahlgrauen Augen und
einem festen Händedruck hieß Rebekka willkommen. Polizeioberkommissar Teit
Jørgensen, der gute Freund von Torsten Krogh. Rebekka hatte des Öfteren gehört,
dass er ein tüchtiger, aber etwas rigider Dienststellenleiter war. Sie grüßte
flüchtig die anderen und ging zu der großen weißen Plane, die die Leiche von
Anna bedeckte.
Sie glich einem roten Engel, wie sie da in dem hohen Gras lag,
während die Sonnenstrahlen in ihren Haaren spielten, die rosa und gold
leuchteten. Die Szenerie war in all ihrer Widerwärtigkeit so faszinierend
schön, dass der Anblick Rebekka für einen Moment überwältigte. Die Wirklichkeit
übertraf bei Weitem die Fotos, die sie gerade gesehen hatte.
»Sie hatte keine Chance.« Michaels Stimme holte sie in die Realität
zurück, und sie nickte verbissen und ging in die Hocke, um sich die Leiche
näher anzusehen. Sie studierte eingehend die Stellung der Toten, die offenen,
starrenden Augen mit den winzigen Blutungen, die Würgemale am Hals, das
entblößte Geschlecht und die unzähligen Messerstiche – selbst im Gesicht –, die
ungewöhnlich waren und davon zeugten, dass der Mörder eine enorme Wut auf sein
Opfer gehabt haben musste.
»Mein unmittelbarer Eindruck ist, dass das keine Zufallstat ist. Der
Mörder war außer sich vor Wut auf Anna. Sie hat ihn gekannt.«
Rebekka sah zu Michael hoch. Er nickte zustimmend.
»Diese Theorie ist auch unsere Ausgangsbasis. Sie war gestern Abend
in der Diskothek und hatte unseren Zeugen zufolge eine heftige
Auseinandersetzung mit einem Typen. Alex Dennis Pedersen. Wir haben ihn zu
Hause nicht angetroffen und zur Fahndung ausgeschrieben.«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Ich meine, die beiden haben sich
richtig gut
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