Vergeltung
abzuwaschen.
MONTAG, 27. AUGUST
Retortvej Nummer 7.
Bereits auf dem Weg zu der Adresse hätte es bei ihr klingeln müssen, doch erst
als Rebekka und Michael vor der imposanten weißen Villa mit dem schwarzen
Ziegeldach parkten, erkannte Rebekka das Haus wieder.
Rigmors Haus. Rigmor Andersen,
Rebekkas Lehrerin von der ersten bis zur siebten Klasse. Einen Moment saß sie
angesichts dieses Zufalls stumm da.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Michael. Sie schüttelte den Kopf.
»Nichts von Bedeutung. Ich habe nur in meiner Schulzeit viele
Stunden in diesem Haus verbracht. Meine alte Klassenlehrerin, Rigmor Andersen,
hat hier gewohnt. Sie hat mir eine Zeit lang sehr geholfen, als ich so ziemlich
mit allem riesige Probleme hatte.«
»Das ist eine der teuersten Wohngegenden der Stadt.«
»Ich weiß. Aber Rigmor war absolut nicht wohlhabend. Sie hatte die
oberste Etage vermietet. Das Haus hat eine unglaubliche Aussicht auf den Fjord.
Kommen Sie.«
Sie stiegen zu der breiten Doppeltür hoch, wo ein bronzener
Löwenkopf als Klopfer diente. Rebekka wollte ihn gerade betätigen, als die Tür
von einem großen, hageren Mann Ende vierzig mit kurzen roten Haaren aufgerissen
wurde. Seine weiße Haut war mit orangeroten Sommersprossen übersät. Sie zeigten
ihm ihre Ausweise.
»Haben Sie ihn gefunden?«, sagte der Mann aufgebracht, noch bevor er
sich als Gert Gudbergsen vorstellte.
»Leider nein, bis jetzt gibt es nichts Neues. Es tut uns leid. Aber
wir würden gerne mit Ihnen reden. Wir haben übrigens Unterstützung von der
mobilen Spezialeinheit erhalten. Das ist Rebekka Holm.«
Michaels Stimme klang ruhig und bestimmt, und Gert Gudbergsen sank
in sich zusammen. Rebekka sprach ihm ihr Beileid aus und reichte ihm die Hand.
Sie betraten eine große Diele, in der Sanna Gudbergsen in einem
pfirsichfarbenen Bademantel stand und sie apathisch anstarrte. Sie war eine
kleine, zierliche Frau mit dunklem Pagenschnitt und ovalen dunklen Augen. Ohne
Zweifel war sie, genau wie ihre Tochter, früher einmal eine Schönheit gewesen.
Jetzt war ihr Gesicht hässlich vom Weinen, die Augen waren rot und
geschwollen und von dunklen schwarzen Rändern umgeben. Die Trauer hatte ihre
Spuren hinterlassen, und Rebekka spürte, wie ihr Herz kurz aussetzte. Sie
erinnerte sich, dass in einer solchen Situation Worte keine Linderung brachten,
sondern nur liebevolle Nähe.
Gert Gudbergsen führte sie in ein L-förmiges Wohnzimmer mit einer
phantastischen Aussicht auf den Fjord. Das Zimmer war hell und mit modernen
Designermöbeln eingerichtet. Es hatte absolut keine Ähnlichkeit mit Rigmor
Andersens tapezierten Räumen mit den dunkelroten Plüschmöbeln, in denen Rebekka
einmal zum festen Inventar gehört hatte.
»Gott liebt alle
Kinder, auch die Unartigen.« Das sagt Rigmor Andersen. Sie sitzen in ihrem
großen Wohnzimmer mit Aussicht auf den Fjord. Jedes Mal, wenn Rebekka Rigmor
besucht, was immer öfter vorkommt, zieht das Panorama sie in seinen Bann. Heute
ist der Fjord weitflächig mit Eis bedeckt, und Büsche und Bäume sind mit einer dünnen
Schicht Schnee überzogen. Die Sonne scheint fahl wie eine große Perle und lässt
den Schnee glitzern, als wäre er mit Tausenden von Diamanten übersät. Rigmor
hat im Garten eine Garbe aufgestellt, die von den Vögeln umlagert wird. Rebekka
beobachtet ihren Überlebenskampf, während sie an dem starken Tee nippt, den die
Lehrerin in hauchdünnen Porzellantassen serviert. Heute hat sie Plätzchen
gebacken, Weihnachtsplätzchen, sie schmecken nach Butter und süßer Marmelade
und zergehen auf der Zunge. Rebekka durchfährt ein wohliger Schauer, als sie in
dem warmen Zimmer mit der verblassten Tapete sitzt, der Tee gleitet wie eine
glühend heiße Welle durch ihre Kehle und füllt den Magen, während Rigmor
ununterbrochen plaudert.
Rigmor Andersen ist anders
als die anderen Erwachsenen. Sie verhört einen nicht. Sie wartet geduldig, bis
man selbst Lust hat, etwas zu sagen. Sie ist alt, älter als ihre Mutter und ihr
Vater, und Rebekkas Klasse ist die letzte, die sie als Klassenlehrerin hat,
bevor sie in Pension geht. Rebekkas Herz beginnt leicht zu flattern bei dem
Gedanken, was für ein Glück sie hat. Sie weiß überhaupt nicht, wie ihr kleines
Leben ohne Rigmor aussehen würde, die die richtige Rebekka kennt. Das hat sie
immer getan, vor und nach Robin. Rigmor hat weder Mann noch Kinder, das heißt,
sie hat eine Menge Kinder, wie sie sagt, nämlich all die Kinder in der Schule,
die sie seit vierzig
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