Vergeltung
Sie
holte ihren Regenmantel und ein Paar Gummistiefel aus dem Kofferraum und ging
in den Wald. Sie erinnerte sich an ihn aus ihrer Kindheit. Sie und Robin hatten
oft in dem dichten Unterholz gespielt und waren auf den vielen schmalen Wegen
Fahrrad gefahren. Später war sie regelmäßig hier spazieren gegangen, meistens
allein. Sie passierte den Schlagbaum und stand am Tatort. Der Regen hatte die
Schleifspuren verwischt, ein rot-weiß gestreiftes Absperrband, auf dem
»Polizei« stand, flatterte im Wind. Rebekka sah sich um. Gerade an dieser
Stelle waren die Bäume besonders riesig, ihre dunklen Wipfel schwankten hoch
oben in der Luft wie gigantische Fächer. Sie ging in die Hocke, nahm ein wenig
feuchte Erde in die Hand und zerbröckelte sie. Dann kroch sie ins Gebüsch. Sie
studierte die Erde, die matschig und mit Farn bedeckt war, und sah sich die
Blätter der dicht wachsenden Büsche aufmerksam an. Die Techniker hatten alle
Blätter mit Blutspritzern abgeschnitten. Rebekka versuchte, sich Annas letzte
Minuten vorzustellen. Was hatte sie gedacht? War sie sich überhaupt darüber im
Klaren gewesen, dass sie für jemanden eine Bedrohung darstellte oder bei
jemandem eine so enorme Wut auslöste, dass dieser so weit gehen würde, sie zu
töten? Sie schloss einen Moment die Augen und lauschte auf die Geräusche des
Waldes, hörte das Plätschern des Regens.
»Ich habe keine
Zeit zu spielen. Ich muss meiner Mutter helfen.« Rikkes Stimme ist schrill, und
obwohl sie beide erst neun Jahre alt sind, hört Rebekka an der Stimme der
Freundin, dass sie lügt. Trotzdem geht sie darauf ein und verabschiedet sich
und legt den Hörer auf. Der Telefonhörer hat einen nassen Fleck, ein Abdruck
ihrer verschwitzten Kinderhand.
Sie ruft Birgitte an.
Birgitte hat heute auch keine Zeit zu spielen, sagt Birgittes Mutter. Rebekka
spürt, wie sich ihre letzte Hoffnung zerschlägt. Es ist Samstagvormittag und es
sind Herbstferien, ihre Mutter liegt im Bett und will nicht gestört werden. Ihr
Vater ist in der Werkstatt. Immer seltener will jemand mit ihr spielen. Und
wenn, dann ist die Luft von einer geheimnistuerischen Atmosphäre erfüllt. Rikke
und Birgitte haben sich gegen sie verbündet. Sie ziehen sie nicht auf, hauen
sie nicht. Sie ignorieren sie einfach. Rebekka ist verwirrt. Sie weiß nicht,
was sie getan hat. Sie wagt nicht zu fragen.
Rebekka geht nach oben und
steht vor der Schlafzimmertür ihrer Eltern. Sie hört die Mutter leise weinen.
Sie zögert, die Hand auf der Klinke, überlegt es sich dann anders und geht
still die Treppe wieder hinunter.
Rebekka zieht langsam
ihren Anorak an und setzt ihre Mütze auf. Sie sieht ihr blasses Gesicht im
Spiegel. Dunkle Ränder unter den Augen und Lippen, die immer wund sind, da sie
sich die Haut aufbeißt. Sie geht den langen verlassenen Weg an den
Einfamilienhäusern entlang hinunter zum Wald. Es weht ein starker Wind, und von
den Bäumen fallen orangerote Blätter und wirbeln durch die Luft. Im Fruerwald
kann man gut spielen. Man kann in den Bäumen Höhlen bauen, sich im dichten
Gebüsch oder im Schilf am Fjord verstecken. Rebekka findet einen großen Stock
und stochert damit im Boden herum. Sie malt Buchstaben in die weiche Erde und
summt das Alphabet vor sich hin. Dann hört sie plötzlich Stimmen, laute,
fröhliche Kinderstimmen. Rebekka flitzt in das dichte Unterholz und versteckt
sich. Kurz darauf spazieren Rikke und Birgitte vorbei. Sie halten sich an der
Hand. Den Kopf hoch aufgerichtet, ihre Schritte fest und selbstzufrieden. Sie
lachen laut, tuscheln. Sie sehen sie nicht. Rebekka spürt, wie sie eine Welle
der Scham überkommt. Sie sieht die Sorglosigkeit der Mädchen und erkennt
nüchtern, dass sie immer außen vor bleiben wird. Vielleicht ist Unglück
ansteckend.
Der Regen hatte aufgehört,
doch der Himmel war schwarzblau, schien sich nicht entscheiden zu können, als
sammelte er Kräfte für ein heftiges Unwetter. Rebekka öffnete die Augen, als
sie in der Nähe Schritte hörte. Sie saß verborgen im Unterholz und war vom Weg
her nicht zu sehen. Sie sollte wohl besser aufstehen und sich nicht wie damals
verstecken. Ihr rechter Arm war eingeschlafen. Die Schritte endeten nur wenige
Meter von ihr entfernt. Sie hörte jemanden hastig atmen. Dann war es still. Ein
leises Blätterrascheln. Rebekka duckte sich auf den Boden. Sie spürte ihr Herz
hart unter dem Regenmantel schlagen, und ihre Hand suchte in der Tasche nach
ihrer Dienstwaffe. Verdammt, sie lag im Auto. Sie
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