Vergeltung
nennt ihn
kaum noch jemand so.«
Jane Mathiesen lachte nervös.
»Warum wollen Sie das wissen?« Zwischen John Mathiesens Augenbrauen
hatte sich eine tiefe Falte gebildet.
»Das ist nicht weiter von Bedeutung«, wiegelte Michael ab. Als das
Ehepaar gegangen war, zeichnete Rebekka auf ihrem Block einen Kreis um den
Namen Kristian. Er war der Einzige in der Familie Mathiesen, der kein lückenloses
Alibi, dafür aber den Spitznamen Poltergeist hatte.
—
Rebekka nahm das Tablett
mit dem lauwarmen Mittagessen mit in ihr Büro. Sie brauchte eine Pause. David
und Susanne waren nach Esbjerg zu der Handelshochschule gefahren, an der Anna
studiert hatte. Sie wollten Lehrer und Kommilitonen befragen. Rebekka aß einen
Bissen von dem falschen Hasen. Ihr wurde augenblicklich schlecht. Er war
trocken und zerbröselte im Mund. Sie schob den Teller zur Seite und überflog
die Verhörprotokolle von Mia und Katja.
Nein, Anna hatte nie einen P. erwähnt. Aber sie
war eine Geheimniskrämerin gewesen, die so leicht nichts preisgab. Ihre Eltern
waren nett, vor allem ihr Vater, der großen Anteil an Annas Leben nahm. Ja, sie
war ganz sicher ein » Vaterkind « . Und sie hatte ihn mehrere Male ins Ausland auf Automessen
begleitet. Anna war sehr modebewusst. Sie hatte immer die neuesten Klamotten
aus dem Ausland. Sie war beliebt gewesen – sowohl bei den Mädchen als auch bei den Jungs.
Rebekka las weiter. Die Mädchen waren einzeln befragt worden, und
keine hatte etwas Entscheidendes zu erzählen gehabt. Sie legte seufzend die
Aussagen zur Seite und nahm noch einmal einen Bissen von dem falschen Hasen, da
sie hungrig war und etwas essen musste.
—
»Anette, ich bin’s.« Er
hörte Anette in den Hörer schnauben und wusste, dass sie draußen bei den Pferden
war.
»Ja.« Die Art, wie sie das Wort
aussprach, ließ darauf schließen, dass sie sich darüber im Klaren war, dass er
sie um etwas bitten wollte. Morgen wurde gewechselt, Michael war die nächsten
fünf Tage für Amalie verantwortlich. Er kam direkt zur Sache.
»Wir arbeiten im Fall Anna Gudbergsen rund um die Uhr, und ich werde
die kommenden Tage lange im Präsidium
bleiben müssen …«
Im Hintergrund wieherte laut ein Pferd und übertönte Anettes
ärgerliche Reaktion.
»Du willst mir mit anderen Worten zu verstehen geben, dass du Amalie
nicht nehmen kannst?«
»Genau, und das tut mir auch sehr leid.«
Das Gespräch geriet ins Stocken, dann seufzte Anette tief.
»Nun gut, daran lässt sich wohl nichts ändern. Aber Samstagabend
gehe ich aus. Die Verabredung steht seit Langem, und ich habe mich darauf
gefreut. Da wirst du sie also nehmen oder jemanden finden müssen, der auf sie
aufpasst.«
»Anette, ich ermittle in einem Mordfall, verdammt. Ich kann nicht
einfach alles stehen und liegen lassen, das weißt du.«
Michael erinnerte sich an die unzähligen Kriminalfilme, die sie über
die Jahre zusammen gesehen hatten, in denen die Hauptperson, ein Polizist,
meistens aufgrund seiner Arbeit geschieden war. Er und Anette hatten sich
damals gefreut, wie selten er trotz allem rund um die Uhr arbeiten musste.
»Michael.« Ihre Stimme war schrill vor Wut. »Diese Verabredung steht
seit Wochen, und ich werde sie nicht absagen.« Sie betonte das nicht und fuhr fort: »Du kannst deine Eltern fragen. Für
die nächsten Tage trägst du die Verantwortung.« Sie legte ärgerlich auf.
Michael starrte wütend das Telefon an und erwog für den Bruchteil
einer Sekunde, sie noch einmal anzurufen. Sie wollte mit einem Typen ausgehen.
Deshalb wollte sie die Verabredung nicht absagen. Er spürte einen Anflug von
Eifersucht, der genauso schnell wieder verflog. Natürlich sollte es ihr vergönnt
sein, mit einem anderen Mann auszugehen.
Er dachte an die Frauen, mit denen er sich seit seiner Scheidung
getroffen hatte. Schön, süß, nett, manche sogar lustig – und trotzdem hatte
jedes Mal etwas gefehlt, etwas, das dafür sprach, dass die Beziehung Bestand
haben würde, sodass er nach einigen Monaten regelmäßig das Interesse verloren
und Schluss gemacht hatte. Die meisten hatten es gut aufgenommen, einige waren
traurig oder wütend geworden und ganz wenige hatten sich schlichtweg geweigert
zu akzeptieren, dass es vorbei war, und alles getan, ihn zurückzugewinnen.
Bettina Pallander gehörte in die letzte Kategorie. Er verfluchte sich noch
immer dafür, dass er etwas mit ihr angefangen hatte. Sie hatten nur eine
einzige Nacht zusammen verbracht, doch danach hatte sie immer wieder
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