Vergeltung
gehabt.«
»Das kenne ich gut. Was glauben Sie, warum ich geschieden bin?« Er
lachte etwas zu laut und sagte hastig: »Meine Eltern planen auch dauernd etwas,
was meine Anwesenheit erfordert. In Wirklichkeit wollen sie nur Amalie sehen,
und solange ich sie zu ihnen bringe, brauchen sie mich nicht. Aber sie sind
schon in Ordnung, die beiden.«
Rebekka murmelte etwas Unverständliches und merkte, dass Michael sie
forschend ansah.
»Warum waren Sie eigentlich so lange weg?«
Packungen mit Kaffee, Keksen und kleinen H-Milch-Döschen verschwammen
kurz vor ihren Augen, und sie griff krampfhaft nach der Lehne eines
Küchenstuhls.
»Rebekka, Sie zittern ja.« Michael stand ganz nah bei ihr. Sie
konnte ihn riechen. Er roch nach sauberer Kleidung, frischer Luft und …
Sie drehte sich langsam zu ihm um.
»Michael«, sie sah ihn an, und er nickte verständnisvoll. »Ein
anderes Mal, Michael. Ein anderes Mal erzähle ich Ihnen gerne alles.«
»Okay.« Er schenkte ihr ein warmes Lächeln und reichte ihr den Arm
als Stütze.
»Kommen Sie, statten wir Sanna Gudbergsen einen Besuch ab«, sagte
er, und sie folgte ihm stumm, ihre Beine waren wacklig wie Gelee. Der Boden
brannte unter ihren Füßen, als ginge sie über heißen Sand.
—
Das Licht weckte Alex.
Trotz der schmutzigen Fensterscheiben gelang es den Sonnenstrahlen, in das
kleine Zimmer zu dringen. Er blinzelte und wusste einen Moment nicht, wo er
sich befand. Dann drang langsam die Wirklichkeit in sein Bewusstsein. Er spürte,
dass das Wasser in der Schüssel eiskalt war, und zog schnell den Fuß heraus.
Die Zehen waren runzlig und weiß, der übrige Fuß hingegen geschwollen und rot
und eine feine netzartige Röte hatte sich bis zum Knöchel ausgebreitet. Er
stöhnte leise und humpelte in die Küche. Ihm war schwindelig, und er klammerte
sich an den Küchentisch. Er fühlte sich elend.
Er trank einen Schluck Cola, spürte
die lauwarme Flüssigkeit im Hals kratzen, dann zündete er sich eine Zigarette
an und blickte auf die verwahrloste Umgebung. Der Garten war gelinde gesagt
ungepflegt, das Gras kniehoch und überall wucherte das Unkraut. Bäume und
Büsche wuchsen ungehemmt, sodass ein großer Teil des Gartens im Schatten lag,
was ihm einen düsteren Ausdruck verlieh. Das passt zu unserer Familie, dachte
Alex finster und humpelte zurück ins Wohnzimmer. Er ließ sich in den Sessel fallen.
Sein Magen knurrte, doch er schaffte es nicht, noch einmal in die Küche zu
gehen, um Brot und Nutella zu holen. Er würde sich ein wenig ausruhen und einen
Plan schmieden. Ein Mörder musste gefasst werden. Alex schloss die Augen,
versuchte den starken Schmerz im Fuß zu ignorieren und sich vorzustellen, wie
er später, wenn all das überstanden war, als Mann von Welt leben würde. Denn so
einer wollte er gerne sein. Umgeben von schönen Frauen mit großen Brüsten und
Männern, die ihm neidische Blicke zuwarfen. In einem weißen Anzug und einem
schwarzen Hemd, mit nach hinten gekämmtem Haar und einer großen Havanna im
Mund.
Alex Dennis Pedersen. Remember my name.
—
»Entschuldigung,
Entschuldigung . Ich kann nicht mehr.« Sanna Gudbergsen brach weinend vor ihren Augen zusammen,
und Rebekka legte den Arm um sie. Sie spürte den schmächtigen Körper, der dem
eines jungen Mädchens glich, sah auf das ungekämmte Haar herab und nahm eine
schwache Alkoholfahne wahr. Sanna Gudbergsen schniefte laut, und Rebekka
brachte sie vorsichtig zum Sofa, wo sie sich hinsetzte.
»Ich vermisse Anna so schrecklich.
Gert liegt im Krankenhaus, und heute hätte der Bestatter kommen sollen. Sie
soll doch Mittwoch beerdigt werden, und ich musste ihm absagen, was soll ich
denn jetzt machen?« Wieder brach sie in heftiges Weinen aus.
»Haben Sie niemanden, der jetzt bei Ihnen sein kann?«, fragte
Rebekka und legte der verzweifelten Frau eine Decke um die Schultern.
Sanna Gudbergsen schüttelte den Kopf. Sie blickte mit großen roten
Augen zu Rebekka hoch.
»Meine Eltern sind tot, und ich bin ein Einzelkind.« Michael gab ihr
ein Taschentuch, und sie putzte sich lautstark die Nase.
»Entschuldigung.« Sanna Gudbergsen sah sie wieder mit ihrem
verwirrten Gesichtsausdruck an.
»Das ist in Ordnung, ich …« Rebekka kam ins Stocken, schwankte einen
Moment zwischen Professionalität und dem Impuls, ihr von ihren eigenen Erfahrungen
mit dem Verlust eines nahestehenden Menschen zu erzählen.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?« Sanna Gudbergsens Stimme
hatte ihren normalen Tonfall
Weitere Kostenlose Bücher