Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
stecke im Berufsverkehr fest, ich komme nicht weiter.«
Tony schreit sie trotzdem an.
Yussef Hourabi hat Rückenschmerzen.
Im Mauthäuschen an der Tunneleinfahrt steht ein Hocker für ihn, aber er setzt sich selten drauf, weil er sich dann jedes Mal verrenken muss, um durch das Fenster zu greifen, und das macht es noch schlimmer, also bleibt er stehen. Mit zweiundfünfzig ist der ägyptische Einwanderer froh, den Job bei der Transit Authority bekommen zu haben. Er ist krankenversichert, was ein Glück ist, denn seine Frau braucht Medikamente. Der Job ist eintönig, aber Yussef vertreibt sich die Zeit damit, die Fahrer fröhlich zu begrüßen, die er im Verlauf der zehn Jahre, die er diesen Job nun schon macht, persönlich kennengelernt hat. An vielen Vormittagen sieht er dieselben Menschen, und er bemüht sich, ihnen die langweilige Fahrt zum Arbeitsplatz mit einem Lächeln und einem »Hallo« so angenehm wie möglich zu machen.
Einige seiner Kollegen meckern ständig rum – die Bezahlung sei schlecht, die Arbeit öde, die Leute unverschämt.
Yussef sagt nichts, wenn sie ihm was vorjammern, sondern lächelt nur in sich hinein.
Er ist in den Slums von Kairo aufgewachsen.
Das hier ist das Paradies.
Er beugt sich aus dem Fenster, lächelt und sagt: »Guten Morgen! Wie geht es Ihnen an diesem wunderschönen Tag?«
Der Brooklyn Battery Tunnel ist der längste unter Wasser gebaute Fahrzeugtunnel in Nordamerika. 170 000 Quadratmeter Beton, 139 000 Tonnen Stahl, 93 600 Tonnen Eisenauskleidung. Über 60 000 Autos befahren täglich die beiden 2780 Meter langen Röhren auf insgesamt vier Spuren. Über drei Lüftungstürme – zwei in Manhattan und einer in Brooklyn – werden alle neunzig Sekunden mehr als 120 000 Kubikmeter Frischluft in den Tunnel gepumpt. Ohne Stau dauert die Durchfahrt circa zweieinhalb Minuten, aber Mary Kelly ist jetzt schon knapp fünfundzwanzig Minuten drin und hat noch nicht mal die Hälfte der Strecke bis zur Ausfahrt am Battery Park in Manhattan hinter sich.
Wie viele der Pendler im Stau, arbeitet Mary im Bankenviertel, in der Wall Street oder deren Umgebung, unweit des Ground Zero. Auch an dem Tag war sie dort gewesen, hatte vom Fenster an ihrem Schreibtisch der kleinen Investmentfirma aus die Türme einstürzen sehen, war zu Fuß über die Brooklyn Bridge getaumelt, Kleidung und Gesicht mit Asche verschmiert.
Jetzt lässt die dreiundvierzigjährige Sekretärin aus Bay Ridge, Mutter zweier Jungs im Teenageralter, das Fenster ihres roten Camry Baujahr 2006 ein Stück runter, um den Zigarettenqualm abziehen zu lassen. Sie hatte ihrem Mann Tom versprochen aufzuhören und will nicht, dass er den Rauch riecht, wenn er den Wagen wäscht, was er häufig am Wochenende tut, sogar im Winter. Normalerweise fährt sie mit der U-Bahn zur Arbeit, will aber heute noch ein paar allerletzte Weihnachtseinkäufe erledigen und nicht vollbepackt in der Bahn stehen.
Sie schaltet das Radio ein und hört in den Verkehrsmeldungen, was sie längst weiß – Stau im Brooklyn Battery Tunnel: »Mit erheblichen Verzögerungen ist zu rechnen.«
»Kannst du laut sagen«, brummt sie.
Theresa Moldano sieht es auf sich zukommen.
Erst war da nur dieses seltsame Geräusch von oben, dann ein ohrenbetäubender Aufprall, der den Bus und Theresa bis ins Mark erschüttert hat, und dann sieht sie den Feuerball auf sich zufliegen, der vordere Teil des Flugzeugs rast über den Highway 278.
Sie denkt an ihr kleines Mädchen, als die rechte Tragfläche des Flugzeugs den Bus in zwei Hälften teilt und beide Teile von der Überführung stürzen.
Theresa wird an die Decke des Busses geschleudert.
Ihr Schädel knallt gegen das Metall, ihr Genick bricht.
Tony fragt am anderen Ende der Leitung, wann sie wohl endlich da sein wird.
Das Flugzeug pflügt über die Überführung und schlittert weiter.
Yussef Houdani, der sich aus seinem Häuschen lehnt, sieht, wie Autos zertrümmert und Laster wie Spielzeug in die Luft geschleudert werden. Ihm bleibt gerade noch Zeit für ein kurzes Gebet, dann walzt das Flugzeug sein Häuschen platt und zerquetscht ihn.
Das Flugzeug, dessen Tragflächen an der Tunneleinfahrt abreißen, ist jetzt ein flammender Torpedo.
Die losen Schläuche der Tragflächentanks versprühen tausende Liter Flugbenzin, während der Restrumpf in die nach Norden führende Röhre rast, Autos und Laster zertrümmert, Menschen unter sich begräbt.
Der Tunnel wird zum riesigen 3000 Meter langen Schornstein
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