Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
York bereits in aller Munde ist.
»Furchtbar, nicht wahr?«, sagt eine Frau zu ihm.
»Entsetzlich«, erwidert Aziz.
Der ICE nach München ist auf die Minute pünktlich.
Der Plan sieht vor, dass Aziz von München nach Paris und von dort nach Barcelona fährt, aber er wird sich nicht daran halten. Von München aus wird er nach Rom weiterfahren, wo ein neuer Reisepass auf ihn wartet, dann mit dem Auto nach Aosta, wie jeder andere Skifahrer, der in den italienischen Alpen Urlaub macht.
So können seine Mitverschwörer, falls sie festgenommen und verhört werden, seinen Aufenthaltsort nicht verraten.
Außerdem fährt er gerne Ski.
Matt Jameson, Leiter der TSA, betritt die Kommandozentrale.
»Dave«, sagt er. »Ich habe gerade erfahren, dass deine Familie in dem Flugzeug saß.«
Dave nickt nur.
»Fahr nach Hause, Dave.«
»Auf keinen Fall werde ich mich vom Dienst …«
»Das ist nicht deine Entscheidung«, entgegnet Jameson. »Du kannst nicht befangen gegen deine eigene Abteilung ermitteln. Erst recht nicht, wenn …«
Er möchte den Satz nicht beenden – wenn deine eigene Frau und dein eigener Sohn zu den Vermissten zählen. Vermisst, vermutlich tot. Stattdessen sagt er: »Um Gottes Willen, fahr nach Hause. Fahr nach Hause und …«
»Ich soll trauern?« Dave schüttelt den Kopf. »Das ist meinFlughafen, ich bin hier verantwortlich. Wenn jemand Sprengstoff in dieses Flugzeug …«
»NTSB und Eagle Airlines werden die Ermittlungen übernehmen«, sagt Jameson, »es sei denn, wir haben Grund zu der Annahme – stichhaltigen Grund –, dass es sich um einen terroristischen Anschlag handelt.«
»Eine Minute nachdem wir einen Selbstmordattentäter mit einem Rucksack voll LNG festnehmen, stürzt ein Flugzeug ab«, sagt Dave ungläubig, »und du gehst davon aus, dass es ein Unfall war?!«
»Bis auf weiteres, bis wir mehr wissen, war es einer«, erwidert Jameson. »Ein tragischer Unfall. Und du ziehst dich zurück.«
Dave starrt ihn wütend an.
»Lass mich einen Arzt rufen«, sagt Jameson. »Der gibt dir was.«
»Ich will nichts.«
»Dave …«
»Was?«
»Tut mir sehr leid.«
Dave nickt, dann dreht er sich um und geht.
Eagle 211 wird zum Krematorium.
Dianas und Jakes Asche schwebt aus der Kabine hinaus in den Tunnel, wirbelt durch die Luft und erhebt sich als Teil einer schwarzen Rauchsäule gen Himmel.
Der heimwehkranke Engel kehrt nach Hause zurück.
✦
»Wir haben sechs ›Trümmerfelder‹«, erklärt ein Sprecher der Fluggesellschaft.
Ist es das, was Diana und Jake jetzt sind, fragt sich Dave – Trümmerteile? Schutt? Abfall? So werden sie zusammengefasst – und mit ihnen Hunderte andere –, die beiden Menschen, die ich auf dieser Welt am allermeisten geliebt habe, die meine Welt waren?
Das Gefühl von Verlust ist gnadenlos. Dave glaubt immer noch, es sei nur einer seiner Alpträume, der Wecker würde gleich klingeln, er aufwachen und Diana und Jake sicher in ihren Betten finden.
Aber er wacht nicht auf, und der Alptraum ist Wirklichkeit.
Dave steht in einem überfüllten Raum des Sheraton Hotel, wo Eagle Airlines eine Art »Katastrophenzentrale« eingerichtet haben, wo sich »die Familien« – wie die Hinterbliebenen der Opfer bereits wenige Stunden nach dem Absturz genannt werden – sammeln und auf die Bestätigung dessen warten, was sie längst wissen.
Die Fluggesellschaft muss gewissenhaft die Passagierliste mit den tatsächlich am Flugsteig eingesammelten Bordkarten abgleichen. Dave weiß, dass dies ein notwendiger Vorgang ist – einige Passagiere, die auf der Liste stehen, haben den Flug möglicherweise wegen eines verspäteten Verbindungsflugs verpasst und wundern sich jetzt, wie knapp sie dem Tod entronnen sind. Für die meisten aber sind die Nachrichten ebenso gewiss wie grauenvoll – ihre Angehörigen saßen im Flugzeug, und es gibt keine Überlebenden.
Dies hatte der Sprecher, gefolgt von Aufschreien und allgemeinem Ringen nach Luft, gleich zu Beginn verkündet. Mehrere Menschen werden ohnmächtig und von Sanitätern versorgt. Sogenannte Trauerbegleiter stehen in den Ecken des Raums, halten nach Menschen Ausschau, die von ihren Gefühlen überwältigt werden, und kümmern sich um diese.
Jetzt wird ein Name nach dem anderen verlesen, und die Angehörigen einzeln in ein separates Zimmer gerufen, wo sie die Bestätigung bekommen, dass die von ihnen geliebte Person im Flugzeug saß. Draußen vor »dem Zimmer« sitzen auf Klappstühlen Herren in schwarzen Anzügen, allesamt
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