Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
mit derselben ausdruckslos diskreten Miene.
Es sind Bestattungsunternehmer.
Sitzen da wie die Krähen, denkt Dave, wie Krähen auf einer Stromleitung.
»TF-1« – Trümmerfeld 1 – erstreckt sich auf mehreren tausend Metern über Jamaica Bay, wo die Küstenwache mit Kuttern und Freiwilligen nach den Überresten derjenigen sucht, die aus dem Heck geschleudert wurden, als das Flugzeug in zwei Hälften brach. Die Notfallhelfer haben Mühe, die Leichen aus dem öligen Wasser zu ziehen, da sie ihnen teilweise in den Händen zerfallen. Einige wenige können herausgefischt und identifiziert werden, und die Mitarbeiter der Bestattungsunternehmen stehen den Angehörigen zur Seite.
»TF-2« befindet sich auf dem Grund des Ozeans, wobei die genaue Lage noch geklärt werden muss. Navy, Küstenwache und zivile Taucher arbeiten im gefährlich kalten und dunklen Wasser, kämpfen gegen schwere Strömungen an, versuchen, das Heck des Flugzeugs zu finden. Es wird Tage oder Wochen dauern, die Leichen unter den winterlichen Bedingungen zu bergen, falls sie überhaupt je gefunden werden.
»TF-3« befindet sich auf Long Island, wo diejenigen gelandet sind, die durch das Loch im Treibstofftank gesogen wurden. Dieses Trümmerfeld ist ein einziger Alptraum – Leichen haben sich in Bäumen verfangen oder hängen über Stromleitungen. Andere sind auf Bürgersteige, Straßen oder Rasenflächen geklatscht.
»TF-4« ist ein schmaler Streifen weiter südlich, der sich über tausend Meter erstreckt. Hier sind die Überreste der Passagiere zu finden, die aus der vorderen Hälfte des Flugzeugs gerissen wurden. Ihre Leichen sind größtenteils nackt, die Kleidung wurde durch den Luftdruck entfernt. Gepäckteile, Stofffetzen, Schmuck und Besteck aus der Bordküche liegen verstreut herum, als hätte ein Riesenbaby einen Tobsuchtsanfall gehabt.
»TF-5« ist der eigentliche Absturzort auf der Highway-Überführung, wo sich die Opfer aus Eagle 211 mit den Opfern am Boden in einer Solidargemeinschaft des Todes vermischen.
Die meisten Toten gab es, als die Spitze des Rumpfs in den Tunnel raste.
»TF-6« ist das Innere des Tunnels, eine finstere Hölle, erfüllt vom Gestank nach Schwefel und verbranntem Fleisch.
»Wie Sie sich vorstellen können«, sagt der Sprecher, »herrscht auf dem Trümmerfeld im Brooklyn Battery Tunnel nach wie vor Chaos, und wir sind bislang nicht in der Lage, die Opfer, die im Flugzeug saßen, von denen zu unterscheiden, die im Tunnel starben.«
Selbst die Zähne der Toten – meist am verlässlichsten bei der Identifizierung in Katastrophengebieten – wurden eingeäschert – und daher »wird die Identifizierung einige Zeit in Anspruch nehmen, falls sie überhaupt gelingt«.
Dave hat in Tora-Bora genug bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Menschen gesehen, um zu wissen, was das bedeutet.
Die Trümmerfelder erstrecken sich über insgesamt zehn Kilometer.
Notfallhelfer sind überall – viele Veteranen von 9/11, alle mit demselben entschlossenen »Nicht noch einmal«-Ausdruck im Gesicht. Abgesehen von der Tunneleinfahrt, wo es Verletzte gibt, die dringend versorgt werden müssen, besteht ihre Arbeit hauptsächlich darin, Leichenteile einzusammeln und irgendwie zuzuordnen.
Auch die Bundesbehörden sind rasch vor Ort erschienen. Nach wie vor ist fraglich, wer zuständig ist – noch weiß niemand, ob es sich um einen Unfall oder ein Verbrechen handelt. Wenn es tatsächlich ein Unfall war, dann hat das National Transportation Safety Board den Vortritt. Handelt es sich aber um einen Terroranschlag, dann ist das Ministerium für innere Sicherheit zuständig. Da die Ursache erst nach eingehenden Ermittlungen festgestellt werden kann, entsteht einstweilen ein Schlachtfeld der Ansprüche und Verantwortlichkeiten.
Das Ministerium für innere Sicherheit, das NTSB, das FBI und die Terrorbekämpfungseinheit der New Yorker Polizei sind ebenso präsent wie die Kings County Sheriffs, und alle durchsuchen die Trümmer. Es herrscht ein einziges Durcheinander, denn solange ein Terroranschlag nicht ausgeschlossen werden kann, ist jeder Absturzort auch Tatort eines Verbrechens, jedes Trümmerteil ein Beweismittel und jede Leiche ein potentielles Mordopfer.
Deshalb und wegen der schieren Masse an Toten ist das Leichenschauhaus des Bezirks schnell überlastet. Kühlfahrzeuge werden zur Aufbewahrung der Leichen bestellt, während die mühsame Arbeit der Identifizierung beginnt. Aber weil die Gerichtsmediziner jeden Toten als mögliches
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