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Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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Musik.
    Amir hört sie und es gefällt ihm nicht.
    Jemand ist wach.
    Er hebt die rechte, flache Hand.
    Das Signal stehenzubleiben.
    Er lauscht.
    Achtet auf Schritte, eine Stimme, eine Frage, eine Forderung.
    Außer dem Radio und dem hungrig schreienden Säugling ist alles still.
    Dann tritt eine junge Frau, das weinende Kind sanft in ihren Armen wiegend, aus einer Tür auf die Straße. Sie trägt einen schwarzen Buibui, ein Tuch, um den Kopf, und Amir kann nicht mehr sehen als ihre Augen und die Henna-Tätowierungen auf ihren Händen.
    Er versteckt das Gewehr hinter dem Rücken und sagt: » Habari ya jioni, mdogo .«
    Guten Abend, kleine Schwester.
    Der Swahili-Dialekt, der an dieser Küste gesprochen wird, ist dem Arabischen sehr ähnlich, daher war es Amir nicht schwergefallen, ihn sich anzueignen.
    » Habari ya jioni «, erwidert sie verunsichert.
    Das Dorf ist klein, und sie kennt den Mann nicht.
    Alessandro kauert zehn Meter hinter ihm und hat wenige Sekunden Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Wenn die Frau schreit, ins Haus geht und ihren Mann weckt, endet der Einsatz möglicherweise mit einer Katastrophe. Die Dorfbewohner schlagen Alarm, rennen hinaus auf die engen Straßen, Chaos macht sich breit.
    Collins hatte gesagt, keine zivilen Opfer – er würde niemals auf eine Frau schießen, schon gar nicht, wenn sie ein bambino im Arm trägt –, aber er würde sie abdrängen, packen und ihr die Hände fesseln müssen. Was würde er dann bloß mit dem Baby tun?
    Aber wenn sie schreit …
    »Was hält uns auf?«, fragt sich Dave.
    Die Uhr tickt.
    »Was ist?«, fragt er in sein Mikro.
    »Amir spricht mit einem BMO«, flüstert Alessandro.
    Black Moving Object.
    Eine Frau mit Burka .
    Lev hört Alessandros Antwort.
    Amir spricht mit einer Frau aus dem Dorf.
    Und was sagt er?, fragt er sich.
    »Schläft das Baby nicht?«, fragt Amir auf Swahili.
    »Der Junge ist krank«, erwidert sie.
    »Hoffentlich keine Malaria?«, sagt Amir und verzieht besorgt das Gesicht.
    »Nein«, erwidert sie. »Nur ein Schnupfen.«
    »Gelobt sei Allah.«
    »Gelobt sei Allah.«
    Sie drückt das Baby fester an ihre Brust. » Lala salama .«
    Schlaf gut.
    » Lala salama «, erwidert Amir.
    Die Frau geht ins Haus zurück.
    Die Kolonne setzt sich erneut in Bewegung.
    Dave betrachtet das Minarett der Moschee und weiß, dass sich Alis Anwesen direkt daneben befindet.
    Noch dreißig Sekunden, dann sind sie da.
    Amir sieht den Mann auf der Straße nur einen Augenblick, bevor dieser ihn entdeckt. Der Mann zuckt kurz zusammen, packt seine Kalaschnikow. Bevor Amir feuert, sieht er den kleinen roten Punkt auf dem weißen Gewand des Mannes, dann explodiert es, Blut spritzt, und der Mann sackt zu Boden.
    Alessandro lässt seine MP5 sinken und gibt über Funk durch: »Vorhut. Schusswechsel.«
    Der Mann ist nicht tot.
    Er windet sich stöhnend am Boden, presst sich die Eingeweide in den Bauch. Alessandro beugt sich über ihn und schießt ihm zwei Mal in den Kopf.
    Donovan sitzt auf dem Schiff und flucht. Weniger als zwei Minuten seit Missionsbeginn, und schon wird geschossen.
    Er wollte keine Feuergefechte, er wollte eine Hinrichtung.
    Dave kauert über der Leiche und blickt dem Mann ins Gesicht.
    Es ist weder Saif noch Amriki.
    Aber der Mann ist Araber, kein Swahili, und das ist ein Problem, denn es bedeutet, dass er nicht zu Alis Männern gehört.
    Er ist Mudschahed.
    Aziz hat Männer auf der Insel stationiert.
    Verflucht, denkt Dave, das könnte enden wie in Mogadischu. Möglicherweise laufen wir direkt in die Scheiße rein.
    Kein Plan überlebt die erste Feindberührung.
    So war das nicht geplant, denkt Dave. Er spricht leise in sein Mikro: »Verzögerung. EKIA ist Mudschahed . Eventuell Verstärkung vor Ort. Bitte um Anweisung.«
    Alle wissen, was das bedeutet. Möglicherweise befindet sich eine unbekannte Anzahl ausgebildeter und kampferfahrener Soldaten auf dem Anwesen. Wenn sie den Einsatz abbrechen wollten, dann jetzt. Kehrt machen, zurück zum Strand, in die Boote und die Mission abblasen.
    Dave will das nicht. Er will es auf keinen Fall, aber die Entscheidung hat nicht er zu treffen.
    Sondern Donovan.
    Das ist der Deal.
    Dave wartet.
    Befehlshaber befehlen.
    Das ist ihr Job und war immer schon ihr Job gewesen, und Donovan weiß das.
    Wenn Leute unbekümmert von der »Einsamkeit des Befehlenden« sprechen, haben sie keine Ahnung, was es wirklich bedeutet, es sei denn, sie waren selbst schon mal in einer solchen Situation.
    Man wägt die Risiken

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