Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Lev hat das Tavor bereits bei hundert Aktionen eingesetzt, die meisten davon in Nächten wie dieser – im Libanon, in Gaza, sogar in Syrien – deshalb macht er sich keine Sorgen.
Sorgen macht er sich nur, weil ausgerechnet der Araber die Vorhut bildet. Das Arschloch könnte ins Dorf vorauslaufen und sie alle in einen Hinterhalt locken. Damit würde er bei seinen Leuten automatisch zum Helden, würde eine Belohung kassieren, und seine alten Dschihadistenfreunde würden ihn wieder in ihren Reihen aufnehmen.
Trau keinem Araber.
Niemals.
Sollte Lev Amir losstürmen sehen, wird er ihm eine Kugel in den Rücken jagen.
»Zwei Minuten«.
Dave nimmt die beschichteten Fotos der beiden Zielpersonen und hält sie sich vors Gesicht. In dem dunkelgrünen Licht des Cockpits kann er sie kaum erkennen, aber ihre Züge haben sich ihm ohnehin längst ins Gedächtnis gebrannt.
Saif und Amriki, denkt er.
Bis gleich.
»Eine Minute.«
Er steckt die Fotos wieder ein und macht sich sprungbereit.
Saif ist müde.
Die Wirkung des Khat ist verklungen, und jetzt fühlt er sich antriebslos, morgen wird wieder ein Tag wie heute und der Tag davor. Heiß, träge und langweilig, versüßt einzig durch das Khat, das er sich vorgenommen hat, erst wieder zu kauen, wenn die Sonne tief am Himmel steht.
Anwar kaut das Zeug jetzt ständig.
Er kann’s ihm nicht verdenken. Hier ist es wie im Knast. Das Leben auf der Insel ist unfassbar öde, die Frauen unnahbar, die Hitze unerträglich, die Moskitos ebenso malariaverseucht wie lästig.
Saif fragt sich, wie lange sie noch auf Aziz’ Anruf werden warten müssen. Die Aufforderung, loszufahren – irgendwohin, bloß weg von hier – und irgendwas zu machen.
Egal was.
Jetzt geht er runter in die Küche, um den Männern Bescheid zu sagen, dass er sich hinlegt. Die Männer, die Aziz geschickt hat – fünfzehn –, bleiben die ganze Nacht auf und halten Wache. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, aber Aziz hat darauf bestanden.
Also sitzen sie jetzt mit den Küchenjungen rum, trinken Tee und kauen Khat, geben an mit ihren Heldentaten in Afghanistan, Tschetschenien, Somalia und im Irak. Manchmal »patroullieren« sie durchs Dorf oder reinigen ihre Kalaschnikows oder ihre PP-9-Maschinenpistolen. Die Küchenjungen sind völlig von ihnen hingerissen, aber Saif findet sie hier verschwendet, die erfahrenen Kämpfer könnten sich im Jemen sehr viel nützlicher machen. Und Scheich Ali wird allmählich auch ungeduldig, weil er sie alle ernähren, unterhalten und von seinen Töchtern fernhalten muss.
Jetzt sagt ihnen Saif gute Nacht, steigt die Treppe hinauf und zieht das Moskitonetz von seinem Bett.
Amriki sieht ihn mit großen, zugedröhnten Augen an.
Dave spürt, wie der Helikopter langsamer fliegt und dann in der Luft stehen bleibt.
»Los!«
Michel springt als erster, dann Willem.
Dann Cody.
Dave lässt seinen wasserdichten Sack fallen, fasst sich schützend in den Schritt und springt.
Erwischt man bei einem Sprung ins Wasser aus einer solchen Höhe den falschen Winkel, ist das wie ein Aufprall auf Beton – ein oder zwei Grad reichen schon, und man bricht sich die Knöchel oder sogar das Rückgrat.
Er schlägt hart auf dem Wasser auf.
Einen Augenblick lang taucht er unter, dann kommt er wieder an die Oberfläche, schwimmt zu seinem Sack und geht seitlich am Schlauchboot in Position.
Korrekte Bezeichnung F470 CRRC.
Combat Rubber Raiding Craft .
Die Soldaten nennen die Dinger »Kondome«, obwohl man allgemein auch von »Zodiacs« spricht. Nicht ganz fünf Meter lang, knapp zwei Meter breit, zehn Männer finden darin Platz, die Boote können im Flug abgeworfen und im Wasser mit einer CO 2 -Patrone aufgeblasen werden.
Bei dieser Mission kommen zwei zum Einsatz.
Es wäre sinnlos, sich zusammenzudrängen, und außerdem ist es gut, noch ein zweites Boot zu haben, falls eins durch einen Schuss oder einen Ast im Mangrovensumpf beschädigt wird – wobei das Boot aus acht separaten Kammern besteht und wegen eines Lochs nicht gleich untergehen würde.
Die erfahrensten Marinesoldaten übernehmen das Kommando auf den Booten – Michel auf dem einen, Willem auf dem anderen.
Ihr Wort ist hier Gesetz.
Zu Michels Crew gehören Alessandro, Lev, Cody und Dave. Bei Willem sind Rolf, Amir, Ulrich und Simon.
Ein CRRC bei unruhiger See aufzupumpen, während man sich gleichzeitig strampelnd über Wasser halten muss, ist genau so, als wollte man im freien Fall durch einen Himmel aus Wackelpudding einen
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