Vergeltung
noch sagen?«
Vanessa winkte ab und trank noch einen Schluck Brandy. »Dann der Angriff auf seine Ex-Frau. Ich dachte bei mir, dass er ganz oben auf der Skala begonnen hat, mit einem Mord, dann kam eine schwächere Aktion. Zwei Rennpferde und irgendein namenloser Stallbursche würden ihn wohl kaum befriedigen. Ich dachte mir schon, dass er so dumm sein könnte, zu glauben, dass er dem da Kummer bereiten würde, indem er mich umbringt.« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf Tony. »Vollidiot.« Es war nicht ganz klar, ob sie damit Tony oder Vance meinte. »Deshalb bin ich lieber auf Nummer sicher gegangen. Ich holte mir ein Messer aus der Küchenschublade und habe es neben mir im Sofa versteckt. Ich habe ihn überhaupt nicht einbrechen hören. Urplötzlich stand er im Wohnzimmer, so als wäre er hier zu Hause.« Sie schauderte. Tony war klar, dass sie damit nur auf Wirkung aus war.
»Er griff mich mit dem Messer an. Also hab ich nach meiner eigenen Waffe gegriffen und nach ihm gestoßen. Es traf ihn völlig überraschend. Er fiel auf mich, und ich brauchte all meine Kraft, um ihn wegzuschieben. Dann brachte ich mich in Sicherheit.« Sie wies mit der Hand vom Kinn hinunter bis zu den Knien. »Er oder ich – darum ging’s.«
»Ich verstehe«, sagte Ambrose.
»Sollte man sie nicht auf ihre Rechte hinweisen?« Tony konnte es kaum fassen, dass Ambrose von der unsäglichen Vorstellung seiner Mutter fasziniert war.
»Auf meine Rechte hinweisen? Ich habe mich schließlich nur gegen einen verurteilten Mörder verteidigt, der mich in meiner eigenen Wohnung angegriffen hat.« Vanessa wechselte von der Mitleidstour zu Empörung.
»Es ist zu Ihrem eigenen Schutz«, erklärte Ambrose. »Und Tony hat recht. Sie müssen jetzt keine Aussage machen, doch könnte es Ihrer Verteidigung schaden, wenn Sie uns jetzt etwas verschweigen, auf das Sie sich später vor Gericht berufen möchten. Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht verwendet werden.«
Vanessa warf Tony einen ihrer undefinierbaren Blicke zu. Er hatte durch schmerzliche Erfahrung gelernt, dass das bedeutete, er würde später dafür bezahlen müssen. Aber dass es diesmal kein »später« geben würde, gehörte zu den Dingen, über die er sich freuen konnte; denn sie würde aus seinem Leben verbannt sein. »Danke, Sergeant«, sagte sie und schenkte ihm ein schwaches Lächeln.
Noch bevor jemand eine weitere Bemerkung machen konnte, erklangen Stimmen im Hausflur. Ambrose ging nach draußen und kam nach einer Weile mit einigen uniformierten Beamten der örtlichen Polizei wieder herein. »Ich habe den Kollegen gesagt, dass sie sofort DCI Franklin kontaktieren müssen«, informierte er Tony. »Sie werden später Ihre Aussage brauchen. Aber ich glaube, Sie müssen erst mal weiter.«
Tony schaute verwirrt drein. »Sie brauchen mich hier nicht mehr?«
Ambrose blickte ihm tief in die Augen und signalisierte ihm, dass er eigentlich etwas anderes meinte. »Die Kollegin, mit der wir vorhin gesprochen haben? Am Yachthafen? Müssen Sie sie nicht dringend kontaktieren?«
Jetzt kapierte Tony. Er wandte sich an Vanessa. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Aber sicher. Diese liebenswerten Menschen hier kümmern sich um mich.« Vanessa erhob sich und trat hinter ihm in den Flur.
Als sie außer Hörweite waren, raunte er bitter: »Du konntest ja schon immer gut mit einem Messer umgehen, Mutter.«
»Du musst gewusst haben, dass ich ein potenzielles Opfer bin. Du hättest mich warnen müssen«, feuerte Vanessa sofort zurück. Sie stand jetzt mit dem Rücken zu den anderen, also konnte sie ihr wahres Gesicht zeigen: rachsüchtig, hasserfüllt und gnadenlos.
Tony musterte sie von oben bis unten. Der Gedanke, der ihn beschlich, erfüllte ihn mit Entsetzen. Dies war wahrscheinlich das letzte Mal, dass er sich freiwillig mit ihr in einem Raum aufhielt. »Warum?«, fragte er und ging nach draußen.
56
E s war Mitternacht, als Tony müde in die Siedlung Vinton Woods einbog. Nur wenige Häuser waren noch beleuchtet, während er versuchte, sich in dem Gebiet zurechtzufinden. Einige Male verfuhr er sich, bevor er dann endlich in der richtigen Straße anlangte. Er schaute nach rechts und links und versuchte, Carols Auto auszumachen.
Dann entdeckte er sie, in einer Einfahrt parkend, direkt gegenüber dem Zugang zu einer Sackgasse. Er hielt auf der Straße und legte den Kopf einen Moment auf das Lenkrad. Mittlerweile war er so erschöpft, dass ihm jeder einzelne Knochen weh tat. Er quälte sich aus
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