Vergessene Stimmen
von einem Unbekannten stammte, was die Vermutung nahe legte, dass der oder die Verdächtigen entweder Handschuhe getragen oder es bewusst vermieden hatten, Oberflächen zu berühren, auf denen Abdrücke zurückgeblieben wären.
In dem Resümee stand, dass alle im Haus gefundenen Fingerabdrücke sowohl mit Proben von Angehörigen der Familie Lost als auch mit denen all jener Personen verglichen worden waren, bei denen ein berechtigter Grund bestand, dass sie sich im Haus aufgehalten und die Stellen berührt hatten, an denen die Abdrücke gefunden worden waren.
Diesmal las Bosch den Bericht anders und in seiner Gesamtheit. Diesmal galt sein Hauptaugenmerk nicht mehr der Analyse der Fingerabdrücke, sondern der Frage, wo die SID-Techniker nach ihnen gesucht hatten.
Der Bericht war auf den Tag nach der Entdeckung von Rebeccas Leiche datiert. Dokumentiert war darin eine routinemäßige Durchsuchung des Haushalts nach Fingerabdrücken. Untersucht wurden alle nahe liegenden Oberflächen. Alle Türgriffe und –schlösser. Alle Fensterbänke und -rahmen. Jede Stelle, die der Mörder/Entführer bei der Tat berührt haben könnte. Während auf Fensterbänken und Riegeln mehrere Abdrücke gefunden wurden, die Robert Lost zugeordnet werden konnten, wurde dem Bericht zufolge auf den Türgriffen des Hauses kein einziger brauchbarer Abdruck entdeckt. Dazu wurde angemerkt, dass dies infolge der mit dem Drehen der Griffe einhergehenden Verschmierung nicht ungewöhnlich sei.
Doch das Schlupfloch, durch das der Mörder entkommen sein könnte, sah Bosch in dem, was nicht in dem Bericht stand. Die Spurensicherung war am Tag nach der Entdeckung der Leiche ins Haus gekommen. Das war, nachdem der Fall bereits zweimal falsch gedeutet worden war, zuerst als Vermisstenmeldung und dann als Selbstmord. Dazu kam noch, dass die Fingerabdruckspezialisten praktisch blind ins Haus geschickt wurden, nachdem endlich klar geworden war, dass es sich um Mordfallermittlungen handelte. Zu diesem Zeitpunkt war noch so gut wie nichts über den Tathergang bekannt. Die Möglichkeit, dass der Mörder sich mehrere Stunden in der Garage oder sonst irgendwo im Haus versteckt gehalten haben könnte, war noch nicht ins Auge gefasst worden. Die Suche nach Fingerabdrücken und anderen Spuren, wie Haaren und Fasern, blieb daher oberflächlich und ging nie über das Naheliegende hinaus.
Jetzt war es dafür zu spät, das wusste Bosch. Zu viele Jahre waren seitdem vergangen. In dem Haus, in dem sich ein Mörder versteckt und gewartet hatte, streifte nun eine Katze herum, und es waren wer weiß wie viele Gegenstände von Flohmärkten und Haushaltsauflösungen hinzugekommen und wieder abgestoßen worden.
Dann fiel Boschs Blick auf die Fotos auf dem Tisch, und plötzlich wurde ihm etwas klar. Rebeccas Zimmer war der einzige Ort im Haus, der all die Jahre unangetastet geblieben war. Es war wie ein Museum, dessen Kunstwerke in Vitrinen fast hermetisch abgeschlossen aufbewahrt wurden.
Bosch breitete alle Fotos von Rebeccas Zimmer vor sich aus. Irgendetwas an diesen Aufnahmen hatte ihm seit dem Augenblick, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, keine Ruhe mehr gelassen. Was das war, konnte er immer noch nicht sagen, nur, dass diese Frage inzwischen von ganz anderer Dringlichkeit war. Er betrachtete die Fotos der Kommode und des Nachttisches und dann des offenen Kleiderschranks. Zum Schluss sah er sich das Bett an.
Er erinnerte sich an das Foto, das in der Daily News veröffentlicht worden war, und nahm die Zeitung aus dem Ordner mit den Berichten und Dokumenten, die sich seit der Wiederaufnahme des Verfahrens angesammelt hatten. Er faltete die Zeitung auseinander und studierte Emmy Wards Foto, und dann verglich er es mit den Aufnahmen, die siebzehn Jahre zuvor entstanden waren.
Das Zimmer schien unverändert, vollkommen unangetastet von dem Leid, das von ihm abstrahlte wie die Hitze von einem Ofen. Doch dann entdeckte Bosch einen winzigen Unterschied. Auf dem Foto in der Daily News war das Bett vor der Aufnahme von Muriel Lost sorgfältig gemacht und glatt gestrichen worden. Auf den siebzehn Jahre alten SID-Fotos war es zwar ebenfalls ordentlich gemacht, aber der Volant der Tagesdecke stand auf der Seite leicht nach außen und am Fußende nach innen.
Boschs Blick wanderte zwischen den Fotos hin und her. Er spürte, wie sich etwas in ihm löste. Wie eine kleine Dosis davon in sein Blut geriet. Das war es, was ihm keine Ruhe gelassen hatte. Das war es, was nicht
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