Vergessene Stimmen
beschäftigten. Er versuchte immer, sich den Glauben an die Mordakte zu bewahren, anders ausgedrückt, er glaubte, dass die Antworten normalerweise zwischen diesen Plastikdeckeln zu finden waren. Doch diesmal hatte er Mühe, an den kalten Treffer zu glauben. Das bezog sich nicht auf die technischen Gesichtspunkte. Er hatte keine Zweifel, dass die Blut- und Gewebespuren, die an der Tatwaffe gefunden worden waren, von Mackey stammten. Aber er glaubte, dass die Sache einen Haken hatte. Etwas fehlte.
Er sah auf seinen Block. Er hatte sich ein paar Notizen gemacht. Eigentlich war es nur eine Liste der Personen, mit denen er sprechen wollte.
Green und Garcia
Mutter/Vater
Schule/Freunde/Lehrer
Ex-Freund
Bewährungshelfer
Mackey – Schule?
Jede Notiz, die er sich gemacht hatte, war evident. Ihm wurde klar, wie wenig sie außer der DNS-Übereinstimmung hatten, und wieder einmal war ihm nicht wohl dabei, die Beweisführung lediglich darauf zu stützen.
Bosch starrte immer noch auf seine Notizen, als Kiz Rider in das Büro kam. Sie tat es mit leeren Händen und finsterem Gesicht.
»Und?«, fragte Bosch.
»Schlechte Nachrichten. Die Mordwaffe ist weg. Ich weiß nicht, ob du schon die ganze Akte gelesen hast, aber darin war auch von einem Tagebuch die Rede. Das Mädchen hat Tagebuch geführt. Auch das ist weg. Alles ist weg.«
7
Sie beschlossen, dass sich schlechte Nachrichten am besten bei einem gemeinsamen Mittagessen verarbeiten und besprechen ließen. Außerdem gab es nichts, was Bosch hungriger machte, als den ganzen Vormittag am Schreibtisch zu sitzen und eine Mordakte durchzulesen. Sie fuhren zum Chinese Friends am Broadway, einem kleinen Lokal am Ende von Chinatown, wo sie um diese Zeit noch einen Tisch bekämen. Man konnte dort gut und reichlich essen und zahlte selten mehr als fünf Dollar. Das Problem war nur, dass es mittags schnell voll wurde, hauptsächlich mit Leuten aus der Feuerwehrzentrale, Trägern goldener Dienstmarken aus dem Parker Center und Bürohengsten aus der City Hall. Wenn man es bis Mittag nicht schaffte, bestellte man sich etwas zum Mitnehmen und aß auf einer der Bänke der Bushaltestelle vor dem Lokal.
Um die anderen Gäste des Restaurants nicht zu stören, ließen sie die Mordakte im Auto, denn im Chinese Friends standen die Tische so dicht beieinander wie die Pulte in einer staatlichen Schule. Was sie allerdings mitnahmen, waren ihre Notizen, und damit der Inhalt ihres Gesprächs unter ihnen blieb, unterhielten sie sich in einer improvisierten Kürzelsprache über den Fall. Rider erklärte Bosch, mit der Feststellung, die Tatwaffe und das Tagebuch seien aus der Asservatenkammer verschwunden, habe sie gemeint, dass zwei Angestellte den Beweismittelkarton zu dem Fall trotz einstündiger Suche nicht hatten finden können. Das überraschte Bosch nicht sonderlich. Wie Pratt ihn kurz zuvor gewarnt hatte, ging das LAPD schon jahrzehntelang sehr fahrlässig mit Beweismitteln um. Beweismittelkartons wurden registriert und, ohne nach Straftaten sortiert zu werden, einfach in chronologischer Reihenfolge in die Regale gestellt. Folglich konnte Beweismaterial von einem Mord neben Beweismaterial von einem Einbruch stehen. Und wenn in regelmäßigen Abständen Beweismittel von verjährten Fällen ausgemistet wurden, wurde gelegentlich auch ein falscher Karton weggeworfen. Auch mit der Sicherheit nahm man es in der Asservatenkammer seit langem nicht sehr genau. Für jemanden mit einer LAPD-Dienstmarke war es kein Problem, sich zu jedem beliebigen Beweisstück Zugang zu verschaffen. Deshalb wurden die Beweismittelkartons häufig geplündert. Es war keineswegs unüblich, dass Waffen oder andere Arten von Beweismitteln verschwanden, vor allem wenn sie von Fällen wie der Schwarzen Dahlie, Charles Manson und dem Dollmaker stammten.
Im Lost-Fall deutete nichts auf einen Beweismitteldiebstahl hin. Eher war es auf Schlamperei zurückzuführen, dass eine Schachtel, die siebzehn Jahre zuvor in einem viertausend Quadratmeter großen Raum voller gleich aussehender Schachteln eingelagert worden war, nicht mehr aufzufinden war.
»Sie werden sie schon finden«, sagte Bosch. »Vielleicht kannst du ja deinen Freund aus dem sechsten Stock dazu bewegen, ein bisschen Druck zu machen. Dann finden sie die Schachtel bestimmt.«
»Na, hoffentlich. Ohne die Tatwaffe nützt uns die ganze DNS nichts.«
»Wie das?«
»Wegen der Beweiskette, Harry. Du kannst nicht mit der DNS
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