Vergessene Stimmen
vor Gericht gehen, ohne dass du den Geschworenen die Waffe zeigen kannst, von der sie stammt. Ohne die Waffe brauchen wir auch erst gar nicht zur Staatsanwaltschaft zu gehen. Die schicken uns umgehend wieder nach Hause.«
»Ich will damit doch nur sagen, dass wir im Moment die Einzigen sind, die wissen, dass wir die Waffe nicht haben. Wir könnten so tun, als hätten wir sie.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein?«
»Glaubst du nicht, dass es am Ende darauf hinausläuft, dass Mackey und wir uns im Verhörraum gegenübersitzen? Ich meine, selbst wenn wir die Waffe hätten, können wir nicht zweifelsfrei nachweisen, dass sein Blut in dem Moment an die Waffe kam, als er Becky Lost erschossen hat. Wir können nur beweisen, dass das Blut von ihm stammt. Wenn du also mich fragst, wird es auf ein Geständnis hinauslaufen. Wir setzen ihn in den Verhörraum, halten ihm die DNS vor die Nase und schauen, ob er darauf anspringt. Mehr nicht. Ich sage also nur: Wir beschaffen uns für das Verhör ein paar Requisiten. Wir gehen in die Waffenkammer und borgen uns eine fünfundvierziger Colt-Pistole, und die holen wir dann raus, wenn wir ihm gegenübersitzen. Wir machen ihm weis, dass wir die Kette haben, und er rückt raus mit der Sprache oder nicht.«
»Ich mag keine faulen Tricks.«
»Solche Tricks gehören aber dazu. Daran ist nichts Unerlaubtes. Das ist sogar gerichtlich verbrieft.«
»Trotzdem glaube ich, dass wir mehr als die DNS brauchen, um ihn einzulochen.«
»Ich auch. Deshalb dachte ich, wir …«
Bosch verstummte und wartete, bis die Bedienung die dampfenden Teller abgestellt hatte. Bosch hatte gebratenen Reis mit Garnelen bestellt, Rider Schweinekoteletts. Ohne ein Wort hob er seinen Teller und schob die Hälfte seines Essens auf ihren Teller. Dann nahm er sich mit einer Gabel drei ihrer sechs Koteletts. Fast lächelte er dabei. Er arbeitete noch nicht einmal einen Tag wieder mit ihr zusammen, und trotzdem hatten sie bereits zu den lockeren Umgangsformen ihrer früheren Partnerschaft zurückgefunden. Er war froh.
»Was treibt übrigens Jerry Edgar so?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Ich habe schon länger nichts mehr von ihm gehört. Wir sind nie so recht über diese Geschichte hinweggekommen.«
Bosch nickte. Als Bosch im Morddezernat der Hollywood Division mit Rider zusammengearbeitet hatte, waren sie in Dreierteams aufgeteilt worden. Jerry Edgar war der dritte Partner gewesen. Dann ging Bosch in Pension, und Rider wurde wenig später ins Parker Center befördert. Edgar, der infolgedessen allein in Hollywood zurückblieb, fühlte sich im Stich gelassen und übergangen. Und seit Bosch und Rider wieder zusammenarbeiteten und zur RHD versetzt worden waren, herrschte von Edgars Seite Funkstille.
»Was wolltest du gerade sagen, als das Essen kam, Harry?«
»Nur, dass du Recht hast. Wir werden mehr brauchen. Noch so ein Gedanke, der mir gekommen ist – ich habe gehört, dass es seit dem elften September und dem Patriot Act einfacher ist, eine Abhörgenehmigung zu kriegen.«
Sie aß eine Garnele, bevor sie antwortete.
»Ja, das stimmt. Das war eins der Dinge, die ich für den Chief betrieben habe. Die Zahl der Anträge ist um ungefähr dreitausend Prozent gestiegen. Auch die Zahl der Genehmigungen ist deutlich gestiegen. Es hat sich gewissermaßen herumgesprochen, dass das eine Maßnahme ist, die wir jetzt einsetzen können. Aber was erhoffst du dir hier davon?«
»Ich dachte, wir platzieren bei Mackey eine Wanze und setzen dann eine Meldung in die Zeitung. Du weißt schon, des Inhalts, dass wir den Fall neu aufrollen, dass wir die Tatwaffe haben, vielleicht auch das mit der DNS – du weißt schon, was Neues. Nicht, dass wir eine Übereinstimmung haben, aber dass wir eine bekommen könnten . Dann warten wir einfach ab und beobachten ihn und hören ihn ab und sehen, was passiert. Wir könnten noch eins draufsetzen und ihm einen Besuch abstatten – nur um zu sehen, wie er darauf reagiert.«
Das ließ sich Rider durch den Kopf gehen, während sie mit den Fingern ein Schweinekotelett aß. Irgendetwas schien ihr sauer aufzustoßen, aber das Essen konnte es nicht sein.
»Was ist?«, fragte Bosch.
»Wen würde er anrufen?«
»Keine Ahnung. Die Person, mit der oder für die er es getan hat.«
Rider nickte nachdenklich, während sie kaute.
»Ich weiß nicht, Harry. Da bist du nach drei Jahren Nichtstun noch keinen Tag wieder im Dienst, und schon liest du Dinge in einen Fall hinein, die ich nicht sehen kann.
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