Vergessene Stimmen
verbundenen Vorteil nicht zu verscherzen, falls sich jemals ein Hauptverdächtiger identifizieren ließe.
Zum Schluss stellte Bosch fest, dass es keine Interviews mit den trauernden Eltern gab. Offenbar hatten die Losts beschlossen, den Schmerz über ihren Verlust nicht öffentlich zur Schau zu stellen. Das fand Bosch sympathisch. Er hatte den Eindruck, dass die Medien die Opfer einer Tragödie zusehends mehr dazu zwangen, in aller Öffentlichkeit, vor laufender Kamera und in Zeitungsartikeln, zu trauern. Eltern ermordeter Kinder gelangten zu regelrechter TV-Prominenz und traten als Experten im Fernsehen auf, wenn das nächste Mal ein Kind ermordet wurde und ein Elternpaar seinen Verlust verarbeiten musste. Bosch gefiel diese Entwicklung nicht besonders. Die beste Art, die Toten zu ehren, war in seinen Augen, sie fest ins Herz zu schließen, anstatt sie mittels der modernen Medien mit aller Welt zu teilen.
Ganz hinten in der Mordakte befand sich in einer Klarsichthülle ein brauner Umschlag mit dem Adler-Logo und der Adresse der Times in einer Ecke. Bosch zog den Umschlag heraus, öffnete ihn und fand eine Reihe von 18 x 24-Farbfotos, die eine Woche nach Rebecca Losts Ermordung bei ihrem Begräbnis gemacht worden waren. Offensichtlich waren sie Teil einer Abmachung: die Fotos für die Erlaubnis, an der Trauerfeier teilzunehmen. Bosch erinnerte sich, früher selber solche Deals gemacht zu haben, wenn es ihm aus Termin- oder Budgetgründen nicht möglich gewesen war, einen Polizeifotografen zu einem Begräbnis zu schicken. Er versprach dem für den Fall zuständigen Reporter ein Exklusivinterview, wenn sich der Zeitungsfotograf bereit erklärte, ihm Fotos von sämtlichen Trauergästen zukommen zu lassen. Man konnte nie wissen, ob der Mörder nicht vielleicht beim Begräbnis auftauchte, um sich an dem Schmerz und der Trauer zu weiden, die er verursacht hatte.
Reporter ließen sich auf so einen Deal immer ein. Los Angeles war einer der am härtesten umkämpften Medienmärkte der Welt, und für die Journalisten hing alles davon ab, wie weit sie Zugang erhielten.
Bosch sah sich die Fotos sehr genau an. Er wusste nicht, wie Roland Mackey 1988 ausgesehen hatte. Die Fotos, die Kiz Rider im Computer aufgerufen hatte, stammten von seiner letzten Festnahme. Sie zeigten einen Mann mit schütterem Haar, Ziegenbart und dunklen Augen. Es war schwierig, dieses Konterfei mit einem der Teenagergesichter in Verbindung zu bringen, die sich versammelt hatten, um eine der Ihren zu Grabe zu tragen.
Eine Weile betrachtete er Becky Losts Eltern auf einem der Fotos. Sie standen eng aneinander gelehnt am Grab, als müssten sie sich gegenseitig stützen. Ihre Gesichter waren tränenüberströmt. Robert Lost war schwarz, und Muriel Lost war weiß. Jetzt wurde Bosch klar, woher ihre Tochter ihre erblühende Schönheit hatte. Die Vermischung der Rassen erhob sich bei einem Kind oft über die damit einhergehenden gesellschaftlichen Schwierigkeiten und brachte eine solche Anmut hervor.
Bosch legte die Fotos nieder und dachte nach. Seltsamerweise fand sich an keiner Stelle der Akte ein Hinweis darauf, dass bei dem Mord die Rassenproblematik eine Rolle gespielt haben könnte. Dabei ließ der Umstand, dass die Tatwaffe von einem Einbruch bei einem Mann stammte, der wegen seiner Religion massiv bedroht worden war, einen möglichen Zusammenhang mit der Ermordung eines Mädchens, dessen Eltern zwei verschiedenen Rassen angehörten, nicht ganz abwegig erscheinen.
Dass dies in der Mordakte nicht erwähnt wurde, hatte nichts zu bedeuten. Der Rassenaspekt war von jeher etwas, was das LAPD nicht an die große Glocke hängte. Etwas schriftlich festzuhalten hieß, es dem ganzen Polizeiapparat zugänglich zu machen – bei brisanten Fällen wurden die Ermittlungsprotokolle bis nach ganz oben durchgereicht. So konnte es dann nach draußen durchsickern und zu etwas anderem, etwas Politischem gemacht werden. Deshalb betrachtete es Bosch nicht als einen Makel des Ermittlungsverfahrens, dass dieser Aspekt nicht zur Sprache kam. Zumindest noch nicht.
Er steckte die Fotos in den Umschlag zurück und klappte die Mordakte zu. Er schätzte, dass die Akte über dreihundert Seiten Dokumente und Fotos umfasste, und doch hatte er auf keiner dieser Seiten den Namen Roland Mackey erwähnt gesehen. War es möglich, dass er damals noch nicht einmal am Rande aufgefallen war? War es in diesem Fall dennoch möglich, dass er der Mörder war?
Das waren die Fragen, die Bosch
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