Vergib uns unsere Sünden - Thriller
die Last des Ermittelns, der Enttarnung und Beweisführung lag jetzt auf Robert Millers Schultern.
Als Roth eintraf, erzählte Miller ihm vom FBI. Roth zog eine höhnische Grimasse, ohne Lassiters Autorität in Frage zu stellen.
Ihr Besucher, eine Leihgabe der Abteilung für Verhaltenswissenschaften im Hauptquartier des FBI in Quantico, Virginia, an das Washingtoner Police Department, war Mitte fünfzig und hatte in etwa das Auftreten eines Universitätsprofessors. Er trug ein Flanelljackett und eine Baumwollhose mit staubigen, abgestoßenen Knien, als würde er in seinem Leben viel Zeit damit verbringen, auf dem Boden zu knien, ins Dunkle zu spähen und Kryptisches zu notieren. Sein Name war James Killarney. Er sah nicht wie ein verheirateter Mann aus. Oder wie ein Familienvater. Er begrüßte jeden Eintretenden mit einem flüchtigen Lächeln und einem Kopfnicken; dass seine Anwesenheit nicht wohlgelitten war, wusste er - nichts Persönliches, nur die Folge tief im System verwurzelter, territorialer und juristischer Zuständigkeiten. Er wirkte ruhig und gelassen, als wären solche Ereignisse etwas Selbstverständliches.
Um kurz nach neun Uhr am Morgen nahmen sieben Detectives im ersten Stock des Zweiten Washingtoner Polizeireviers zu einer geschlossenen Sitzung Platz, unter ihnen Männer wie Chris Metz, Carl Oliver, Dan Riehl und Vince Feshbach - Veteranen des Morddezernats, denen Miller die Leitung eines solchen Falls viel eher zugetraut hätte als sich selbst. Einer wie der andere trugen sie den gleichen Gesichtsausdruck
spazieren: Ich habe alles gesehen. Auf dieser Welt gibt es nichts, mit dem ich nicht fertig würde. Und bald, vielleicht eher, als ich denke, werde ich genug gesehen haben. Miller hatte immer gehofft, nie mit diesem Ausdruck herumlaufen zu müssen, nie auszusehen wie einer von ihnen. Vergeblich. Das wusste er inzwischen. Er hoffte nur, dass er ihm besser stand als den anderen.
Die Spannung zeigte sich in Blicken, wechselnden Mienen, der Art und Weise, wie jeder seinen Nebenmann und den daneben und dann wieder Killarney anschaute. Sie waren in Washington, solchen Dingen musste ein Riegel vorgeschoben werden, aber es war auch ein unausgesprochener Unmut spürbar. Auch Miller schwankte zwischen Ärger und der Neugier auf die Ausführungen, die der Gast aus Arlington zu ihrem Fall zu machen hatte.
Killarney lächelte. Einen Moment lang blieb er vor den Anwesenden stehen, bevor er zurücktrat und sich auf der Schreibtischkante niederließ. Wie ein Lehrer, ein Universitätsdozent. Es fehlte nur die Wandtafel.
»Ich heiße James Killarney«, sagte er. Seine Stimme war leise, die Stimme eines geduldigen, aufmerksamen Mannes. »Ich bin gekommen, um mich mit Ihnen über die Situation auszutauschen, weil ich etwas Erfahrung mit solchen Dingen habe, aber bevor wir das tun, würde ich mit Ihnen gerne Grundlegendes erörtern.«
Killarney machte eine Pause, als wartete er auf Fragen, dann lächelte er wieder und redete weiter.
»In Berkley werden kriminalpsychologische Seminare abgehalten. Sämtliche Formen körperlichen Missbrauchs kommen dabei zur Sprache, von grundlosen, spontanen Übergriffen auf Frauen über geplante Gewalt bis hin zu Entführung, Folter, sexuellem Missbrauch, Vergewaltigung und schließlich manifestem Mord. Und in dem Zusammenhang wird regelmäßig die Kiste mit dem Mutterentzug aufgemacht.« Er
wischte mit der rechten Hand lässig durch die Luft, während die linke tief in der Hosentasche ruhte. »Das Über-Ich als die Instanz der Persönlichkeit, die für die moralisch-ethischen Dinge zuständig ist, und seine Beschädigung durch den Entzug der Mutterliebe in einem frühen Entwicklungsstadium.« Wieder ein Lächeln, ein großväterliches diesmal. »Im Grunde eine endlose Absonderung von Unsinn aus den Mündern von Leuten, die offenbar nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, als sich Ammenmärchen über die Denkweise der Menschen zusammenzuphantasieren.«
Murmelnde Zustimmung, kurzes Gelächter.
»Bei einer Sache allerdings, der Methode und Motivation von Menschen, die Gewalttaten und Morde verüben, haben sie nicht ganz unrecht.« Er machte eine kurze Pause, schaute sein Publikum an. »Aus Beobachtung und Erfahrung kann man zwischen zwei Typen von Tätern unterscheiden, Marodeuren und Pendlern. Marodeure bleiben immer am selben Ort und locken ihre Opfer in der Regel an bestimmte Plätze, um dort das Verbrechen zu begehen. Pendler suchen sich die Orte aus, wo sie das
Weitere Kostenlose Bücher