Vergiftet
gequält.
»Und wie schaffen Sie das dann?«, fragt Linda Fjell nach einer Weile.
Henning braucht einen Moment, um ihr zu antworten. »Wer sagt, dass ich es schaffe?«, erwidert er leise. Als er langsam weiterredet, klingt seine Stimme weich. »Aber ich versuche, meinen Sohn so lebendig im Gedächtnis zu behalten, wie ich nur kann. Für mich bedeutet das, so oft an ihn zu denken wie nur möglich. Und über ihn zu reden, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet. Manchmal rede ich auch mit ihm, auch wenn dieses Gespräch nur in meinem Kopf stattfindet. Würde ich das nicht tun, könnte ich ebenso gut selbst tot sein. Aber ich lebe noch, weil ich meine Erinnerungen an ihn in mir weiterleben lasse. Sie verdienen das. Er verdient das.«
Eine ganze Weile lang schweigen beide. Henning fühlt sich schäbig.
»Ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen ein paar Fragen über Vidar stelle?«
Linda Fjell atmet schwer. »Okay«, sagt sie dann und schnieft.
»Gut. Herzlichen Dank.«
»Ich weiß ja nicht, was Sie wissen wollen, aber …«
»Vielleicht könnten Sie mir einfach ein bisschen über Ihren Sohn erzählen?«
»Tja.«
»Wir können ja mit seiner Arbeit anfangen«, sagt Henning, um ihr auf die Sprünge zu helfen. »Seinem Fitnessstudio.«
» Kraft & Respekt «, sagt sie stolz. »Das war eine echte Herzensangelegenheit für ihn. Er hat da so gut wie alles selbst gemacht. Hätte nie auch nur im Traum daran gedacht, seinen Laden an eine der großen Ketten zu verkaufen. Nein, das hätte nicht zu Vidar gepasst. Er wollte immer alles auf seine Weise machen, schon als kleiner Junge. Wissen Sie, dass in seinem Studio Jugendliche trainieren durften, die sonst kaum irgendwelche Möglichkeiten hatten?«
»Ja, das weiß ich.«
»Vidar hat sie sozusagen eigenhändig von der Straße geholt. Bei seiner Beerdigung war ein Riesenauflauf, die Schlange der Leute reichte bis quer über den Friedhof. Nicht mal in der Kirche war Platz für alle, so viele Freunde hatte Vidar.«
Henning hört, dass Vidars Mutter mit jedem Wort wächst.
»Hatte er auch viele enge Freunde?«
»Viele.«
»Wen?«
Linda Fjell zählt die Namen auf, die Henning bereits kennt. Robert van Derksen, Geir Grønningen, Petter Holte, Kent Harry Hansen. Aber nicht Tore Pulli. Henning fragt, ob Tore nicht auch ein enger Freund von Vidar gewesen sei.
»Nein.«
»Entschuldigen Sie, dass ich noch einmal nachfrage«, sagt er nach einer kurzen Pause. »Aber woher wissen Sie das?«
»Weil wirkliche Freunde füreinander eintreten.«
»Und das hat Tore nicht getan?«
»Nein.«
»Inwiefern? Er wurde schließlich dafür verurteilt, dass er den Mord an Ihrem Sohn gerächt hat.«
Linda Fjell schnaubt. »Steht man so für seine Freunde ein? Indem man jemanden tötet? Ich denke an etwas ganz anderes. Vor ein paar Jahren hatte Vidar Probleme mit seinem Studio – finanzielle Engpässe und so. Die Miete wurde damals deutlich angehoben, und der Zuschuss, den er von der Gemeinde für sein Projekt bekam, war leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Tore hatte so viel Geld, dass er kaum wusste, wohin damit. Also ging Vidar zu Tore und bat ihn um Hilfe. Und was glauben Sie hat dieser Typ geantwortet? Er hat doch tatsächlich Nein gesagt.«
»Ging es damals um viel Geld?«
»Das weiß ich nicht. Für die genauen Summen habe ich mich nie interessiert, aber es war mit Sicherheit nicht so viel, dass Tore sich das nicht hätte leisten können. Und wissen Sie, was er anschließend gemacht hat? Er hat sich ein nagelneues Motorrad gekauft. Dabei hatte er doch schon drei oder vier davon. Mein Gott!«
Henning notiert Gierig? auf dem Block vor sich.
»Wie hat Vidar darauf reagiert?
»Tja, was glauben Sie denn? Er war enttäuscht, das ist doch klar.«
»Hm.«
Eine unangenehme Stille schiebt sich zwischen sie. Als Henning ein paar Minuten später auflegt, hat er das untrügliche Gefühl, dass Pulli erst nach Vidar Fjells Ermordung zu seinem Beliebtheitsgrad gekommen ist.
24
Als die Familie Brenden/Haaland zum ersten Mal den Start eines neuen Schuljahres feiern wollte, war Julie gerade geboren, und sie mussten ihr Vorhaben aufgeben, noch ehe der Kellner mit den Speisekarten gekommen war. Die Kleine war gar nicht gut aufgelegt und schrie sich die Seele aus dem Leib. Zu Hause konnten sie schreiende Kinder ertragen, aber in der Öffentlichkeit war das etwas anderes.
Das Jahr danach verlief besser. Da schafften sie wenigstens schon die Hälfte ihres Essens, ehe sie gehen mussten. Noch
Weitere Kostenlose Bücher