Vergiftet
besser verlief ihr dritter Versuch. Da bestand Julie auf einer eigenen Portion und aß tatsächlich vier oder fünf Bissen, bevor sie satt war. Heute, da Pål sich stolz als Viertklässler bezeichnen kann, ist Thorleif überzeugt, dass sie sich auch in einem Restaurant einigermaßen zivilisiert aufführen und eine komplette Mahlzeit essen können, ohne den Gästen am Nachbartisch den Spaß zu verderben.
Sie folgen einer zierlichen jungen Frau, die sie über eine Treppe nach unten in den Gastraum der Pizzeria Di Mimmo führt und ihnen einen Tisch am Rand des Lokals zuweist. Nachdem sie bestellt haben, senkt sich Ruhe über den Tisch.
»Weißt du, was mir heute passiert ist?«, fragt Elisabeth und macht ein geheimnisvolles Gesicht.
»Nein?«, erwidert Thorleif neugierig.
»Ich bin interviewt worden.«
»Von wem?«
»Ich glaube, die waren von Aftenposten . Es war so eine Umfrage auf offener Straße.«
»Ich dachte, Aftenposten würde so etwas nicht mehr machen?«
»Ich auch.« Elisabeth lächelt zufrieden.
»Und worum ging es?«
»Das Thema war Kriminalität und Zuwanderung. Oder umgekehrt. Vielleicht ging es aber auch um organisierte Kriminalität, so genau weiß ich das nicht mehr. Auf jeden Fall haben sie gefragt, ob ich oder jemand in meiner Familie sich schon einmal bedroht gefühlt hat. Ich habe natürlich mit Nein geantwortet.«
»Sonst wollten sie nichts wissen?«
»Ich weiß nicht mehr so genau …«
Thorleif mustert sie, als sie nachdenkt.
»Doch, jetzt weiß ich’s wieder. Die Frage lautete: Wie weit wären Sie bereit zu gehen, um Ihre Familie zu schützen?«
Thorleif starrt sie an. »Du machst Witze?«
»Nein.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Ja, was denkst du denn? Ich habe natürlich gesagt, dass ich alles tun würde. Du etwa nicht?«
Thorleif nickt still. Für gewöhnlich glaubt er Menschen nicht, die behaupten, in bestimmten Situationen »alles« für ihren Partner oder ihre Familie zu tun. Er zweifelt stark daran, dass sie das wirklich meinen oder sich im Klaren darüber sind, was das bedeutet. Deshalb hält er selbst sich mit solchen Aussagen zurück. Jedenfalls war das so, bevor er Kinder bekommen hat.
»Wann soll es gedruckt werden?«, fragt er.
»Morgen, glaube ich.«
»Dann sollten wir morgen früh aufstehen«, sagt er und lächelt. Die kurzhaarige Bedienung nähert sich mit energischen Schritten. Er richtet sich etwas auf und blickt in Julies erwartungsvolles Gesicht. Ihr Po hat nur selten wirklich Kontakt mit dem Stuhl. Pål leckt sich bereits die Lippen. Thorleif sieht sie an, bis irgendwo tief in seinem Inneren alles ganz weich wird.
25
Die Messerschleiferei Verschärft liegt im Kurveien in Kjelsås. Gelbe Betonblocks, aus denen weiße und blaue Balkone wie aufgezogene Schubladen herausragen, pressen sich gegen den Berghang. Vor den Erdgeschosswohnungen versuchen stattliche Hecken, die winzigen Vorgärten abzuschirmen, in denen Holzkohlengrills den größten Teil der Rasenfläche einnehmen.
Am Ende der Straße auf der Auffahrt vor einer Garage parkt ein Nissan Micra, das Logo von Verschärft und die Internetadresse der Messerschleiferei auf dem hinteren linken Seitenfenster. Oben auf dem Hügel sieht Henning ein großes schwarzes Blockhaus.
Er holt tief Luft und nimmt die Treppe in Angriff. Oben angekommen hat er einen weiten Blick über den blauen Oslofjord. Die ganze Stadt liegt ihm zu Füßen. Aus einer gewissen Entfernung betrachtet ist Oslo wirklich eine sagenhaft schöne Stadt.
Er drückt die Klingel neben der Haustür, die mit verschaerft.no beschriftet ist. Kurz darauf sind Schritte zu hören. Die Tür geht auf.
»Hallo«, begrüßt ihn eine Frau mit langem rotem Haar. Hübsche Grübchen. Niedliche Sommersprossen. Sie macht nicht den Eindruck, als ob sie es mit Brolenius aufnehmen könnte. Aber wenn jemand deinen Liebsten umbringt, denkt Henning, gibt es vermutlich keine Grenzen, zu was man imstande ist. Besonders wenn man seinen Lebensunterhalt damit verdient, scharfe Mordwaffen noch schärfer zu schleifen.
»Sind Sie Irene Otnes?«
»Ja, bin ich. Wie kann ich Ihnen helfen? Wollen Sie ein Werkzeug geschliffen haben?«
»Nein. Ich würde gerne mit Ihnen über Vidar Fjell sprechen.«
Das breite Lächeln verschwindet.
»Ich heiße Henning Juul und arbeite für die Onlinezeitung 123nyheter .«
Otnes mustert ihn skeptisch. »Wieso wollen Sie über Vidar reden?«
»Ich sitze an einem Artikel über Tore Pulli. Sein Fall soll wiederaufgerollt werden, und
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