Vergiftet
Ende bringt, womit sie begonnen hat.
Henning hört ihr mit geschlossenen Augen zu. Auch wenn Nora wie gewohnt ruhig spricht, dehnen sich die Sätze aus und werden zu langen, würgenden Händen.
»Und ich kenne dich, Henning. Ich weiß, dass du diese Dinge über den Brand nicht gesagt hättest, wenn es nicht einen Grund dafür gäbe. Ich weiß, dass du mich nicht verletzen willst.«
Henning ist nicht in der Lage, etwas zu sagen.
»Ich war schon lange nicht mehr … an Jonas’ Grab. Und ich habe deswegen ein schrecklich schlechtes Gewissen.«
Henning nickt in die Stille hinein. Er hat es auch nicht über sich gebracht, das Grab zu besuchen … bis … Er schlägt die Augen auf. Noras Stimme klingt weiter in seinem Ohr, aber er hört nicht mehr, was sie sagt. Er schaltet den Lautsprecher ein und legt das Handy vor sich auf den Tisch, beugt sich über einen Papierstapel, der neben dem Drucker auf dem Boden liegt, und blättert sich durch die unsortierten Artikel über Rasmus Bjelland, Tore Pulli, Joachim Brolenius und Vidar Fjell. Nora redet weiter, ohne dass etwas davon zu ihm durchdringt. Endlich findet er den Artikel, nach dem er gesucht hat. Sein Blick huscht über den Text.
GRAB DES MORDOPFERS GESCHÄNDET
»Es ist grauenvoll!« Es ist erst wenige Wochen her, dass Irene Otnes ihren Geliebten und Lebenspartner Vidar Fjell zu Grabe getragen hat. Am Morgen ist sie nun von der Nachricht geweckt worden, dass jemand seinen Grabstein umgeworfen und sein Grab geschändet hat. Sie zweifelt nicht daran, wer das getan hat. Am Freitagabend wurde der Mann, der angeblich ihren Mann umgebracht haben soll, selbst ermordet in einer stillgelegten Fabrikhalle in Storo gefunden.
»Das ist eine Racheaktion seiner Freunde«, sagt Otnes zu Aftenposten . Sie wird von Gunhild Dokken unterstützt, die die Grabschändung früh am Samstagmorgen entdeckt hatte, als sie Blumen auf Fjells Grab legen wollte. Sie war es auch, die die Polizei alarmierte. »So was Dreistes«, empört sie sich noch heute.
Henning schaut hoch, sieht sich das Foto von Irene Otnes und Gunhild Dokken vor Fjells umgekipptem Grabstein an.
So was Dreistes.
»Verstehst du, was ich meine?«, fragt Nora.
Henning antwortet nicht, er studiert weiter das Foto in dem Artikel und sieht sich Gunhild Dokkens Augen an.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, beendet er das Gespräch und setzt sich in Bewegung.
111
Er hetzt die Treppe nach unten und hinaus in den späten Nachmittag, wo der Regen in dicken Tropfen auf die Steinfliesen im Innenhof prasselt. Im Blumenbeet liegt ein Pflanzspaten, den er sich schnappt und in die grüne Schultertasche steckt. Als er sich wieder aufrichtet, rutscht ihm das Handy aus der Tasche und landet mit dem Display nach unten in einer Pfütze. Henning flucht, hebt es eilig auf und versucht, es zu trocknen. Er probiert die Tasten. Erleichtert stellt er fest, dass es noch funktioniert. Er richtet sich auf, geht zu seiner Vespa und knattert los. Das Wetter kümmert ihn nicht. Im Gegenteil, denkt er, im Moment könnte dieser Regen sogar von Vorteil sein.
Der Abendverkehr ist mäßig, und er kommt gut voran. Zehn Minuten später hat er den Friedhof Gamlebyen erreicht, wo Vidar Fjell neben etwa siebentausend anderen Menschen begraben liegt. Henning fährt über den Bürgersteig und parkt vor dem Zaun auf der Rückseite der Dyvekes-Brücke. Die hohen Nadelbäume entlang der Einfriedung versperren den Einblick vom Dyvekes vei. Die vorbeirauschenden Autos verteilen das Wasser der Pfützen fächerförmig, als Henning zielstrebig auf einen der Eingänge zumarschiert und das Handy aus der Innentasche seines Mantels nimmt, um Bjarne Brogelands Nummer zu wählen.
Das Display zeigt nichts an.
Ungläubig bleibt er stehen und sieht das grau beschlagene Fenster an, dann drückt er ein paar Sekunden die Powertaste und wartet. Nichts tut sich.
»Scheiße«, sagt er laut und steckt das Handy zurück in die Innentasche, als er den Friedhof betritt. Zwischen den Bäumen und Büschen wabert dichter Nebel. Er ruft sich das Foto aus dem Artikel ins Gedächtnis. Demnach liegt Fjell in der Nähe eines rechteckigen Springbrunnens. Henning folgt den grauen Steinplatten, zwischen denen Gras wächst. Der Duft von feuchtem Herbst und frischen Schnittblumen folgt ihm. Um ihn herum ragen die Grabsteine wie große graue Zähne auf, eingerahmt von Blumen, die von dem prasselnden Regen platt gedrückt werden. Er kommt zu zwei mittelhohen Bäumen, hinter denen hohe Buschreihen eine
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